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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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konnten.
    Marty, der mit leerem Weinglas um den Schreibtisch herum zu ihr kam, sagte: »Eine Fugue kann ein Symptom für mancherlei sein. Zum Beispiel für die Alzheimersche Krankheit im Frühstadium, aber ich denke, das können wir ausschließen. Wenn ich die Alzheimersche Krankheit hätte, dann wäre ich mit einem Jahrzehnt Vorsprung der jüngste bekannte Fall.«
    Er stellte das Glas auf den Schreibtisch und ging zum Fenster, wo er zwischen den Holzklappen der Läden in die Nacht hinaus sah.
    Paige stellte betroffen fest, wie verletzlich er plötzlich wirkte. Mit seiner Größe von einem Meter achtzig, seinen neunzig Kilo, seiner unbekümmerten Lebensart und seinem grenzenlosen Enthusiasmus für das Leben war Marty ihr stets solider und dauerhafter als alles in der Welt vorgekommen, eingeschlossen Berge und Meere. Plötzlich wirkte er so zerbrechlich wie eine Glasscheibe.
    Er hatte ihr den Rücken zugewandt und studierte immer noch die Nacht, als er sagte: »Oder es könnte ein Anzeichen für einen kleineren Schlaganfall sein.«
    »Nein.«
    »Aber alle Nachschlagewerke, die ich konsultiert habe, nennen als wahrscheinlichste Ursache einen Gehirntumor.«
    Sie hob das Glas. Es war leer. Sie konnte sich nicht erinnern, daß sie den Wein getrunken hatte. Ihre eigene kleine Fugue.
    Sie stellte das Glas auf den Schreibtisch. Neben das verhaßte Diktiergerät. Dann ging sie zu Marty und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    Als er sich zu ihr umdrehte, küßte sie ihn sanft und hastig. Sie legte den Kopf an seine Brust und drückte ihn, und er legte die Arme um sie. Durch Marty hatte sie gelernt, daß Umarmungen für ein gesundes Leben so wichtig waren wie Essen, Wasser, Schlaf.
    Vorhin, als sie ihn ertappt hatte, wie er systematisch überprüfte, ob alle Fenster verschlossen waren, hatte sie nur mit einem finsteren Stirnrunzeln und einem einzigen Wort – »Also?« – darauf bestanden, daß er nichts vor ihr verbarg. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte gar nichts von diesem einen schlimmen Augenblick an einem ansonsten prächtigen Tag gehört.
    Endlich sah sie zu ihm auf, direkt in seine Augen, ohne die Umarmung zu lösen, und sagte: »Es muß nichts sein.«
    »Es ist etwas.«
    »Ich meine nichts Körperliches.«
    Er lächelte wehmütig. »Es ist tröstlich, eine Psychologin im Haus zu haben.«
    »Nun, es könnte etwas Psychologisches sein.«
    »Irgendwie ist es nicht besonders beruhigend, daß ich möglicherweise nur verrückt bin.«
    »Nicht verrückt. Gestreßt.«
    »Ah, ja, Streß. Die Ausrede des zwanzigsten Jahrhunderts, die Lieblingsausrede jedes Schwindlers, der auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, jedes Politikers, der erklären möchte, warum er betrunken und mit nackten Teenagern in einem Motelzimmer entdeckt wurde …«
    Sie ließ ihn los und wandte sich wütend ab. Sie war nicht speziell wütend auf Marty, sondern auf Gott, das Schicksal, was auch immer, das plötzlich turbulente Strömungen in den ruhigen Fluß ihres Lebens gebracht hatte.
    Sie wollte zum Schreibtisch gehen und ihr Glas holen, als ihr einfiel, daß sie es schon leer getrunken hatte. Sie wandte sich wieder an Marty.
    »Na gut … abgesehen von damals, als Charlotte krank war, bist du nie gestreßter als eine Miesmuschel gewesen. Aber vielleicht machst du dir ja heimlich Sorgen. Und du stehst in letzter Zeit ziemlich unter Druck.«
    »Tatsächlich?« Er zog die Brauen hoch.
    »Der Abgabetermin für dieses Buch ist knapper als sonst.«
    »Aber ich habe immer noch drei Monate und denke, daß ich nur einen brauche.«
    »Die neuen Karriereerwartungen – dein Verleger, dein Agent, jeder in der Branche sieht dich jetzt mit anderen Augen.«
    Die Taschenbuchnachdrucke seiner beiden letzten Romane standen beide acht Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times . Er hatte bisher noch keinen Hardcoverbestseller gehabt, aber mit Erscheinen seines neuesten Romans im Januar schienen auch diese neue Höhen des Erfolgs in greifbare Nähe zu rücken. Der plötzliche steile Anstieg der Verkaufszahlen war aufregend, aber auch beängstigend. Marty wollte zwar ein größeres Publikum, aber er war auch fest entschlossen, seine Bücher nicht auf größeren Erfolg hin maßzuschneidern und sie so dessen zu berauben, was ihre Spontaneität ausmachte. Er wußte er lief Gefahr, sein Schreiben unbewußt anzupassen, daher war er in letzter Zeit ungewöhnlich hart gegen sich selbst gewesen, obwohl er selbst immer sein schärfster Kritiker war und manche Seite

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