Die zweite Haut
die Brille unwillig ab. Ohne deren Linsen wird er wieder von der magischen Gegenwelt, wo er kurze Zeit Verwandtschaft mit anderen Menschen verspürte, zurückversetzt in diese Welt, wo er sich sehr bemüht, sich zugehörig zu fühlen, aber für alle Zeiten ein Außenseiter bleibt.
Er verläßt das Haus und schließt die Tür, macht sich aber nicht die Mühe, sie abzuschließen. Er wischt den Messingknauf nicht ab, weil er sich keine Gedanken macht, er könnte Fingerabdrücke hinterlassen.
Die kalte Brise faucht und heult unter dem Vordach hindurch.
Abgefallene Blätter wuseln in Scharen mit rattenähnlichem Kratzen und Rascheln über die Einfahrt.
Die Wache stehenden Bäume scheinen auf ihren Posten eingeschlafen zu sein. Der Killer spürt, daß jemand ihn aus einem der leeren Fenster in der Straße beobachtet. Selbst die fragende Stimme der Eule ist verstummt.
Da ihn immer noch bewegt, woran er teilgehabt hat, verzichtet er darauf, auf dem Rückweg zum Auto sein kleines Nonsenslied zu summen.
Während er zu dem Hotel fährt, wo er wohnt, spürt er erneut das niederdrückende Gefühl der Apartheid, in der er lebt. Ausgestoßen. Gemieden. Ein einsamer Mann.
In seinem Zimmer zieht er das Schulterhalfter aus und legt es auf den Nachttisch. Die Pistole befindet sich noch im Griff des nylongefütterten Ledergurts. Er betrachtet sie eine Weile.
Im Badezimmer nimmt er eine Schere aus dem Rasierzeug, klappt den Deckel der Toilette herunter, setzt sich im grellen Neonlicht und zerstört gewissenhaft die beiden gefälschten Kreditkarten, die er bisher bei diesem Auftrag benutzt hat. Morgen wird er Kansas City mit einem Linienflug verlassen, wieder einen anderen Namen benutzen, und auf der Fahrt zum Flughafen wird er die winzigen Bruchstücke der Karten den ganzen meilenlangen Highway entlang verstreuen.
Er kehrt zum Nachttisch zurück.
Sieht die Pistole an.
Nachdem er die Leichen am Tatort zurückgelassen hatte, hätte er die Waffen in so viele Einzelteile wie möglich zerlegen sollen. Die Teile hätte er an weit entfernten Orten wegwerfen müssen: den Lauf vielleicht in einem Abwasserkanal, den halben Rahmen in einem Bachbett, die andere Hälfte auf einer Müllkippe … bis nichts mehr übrigblieb. Das ist die Standardprozedur, und er kann nicht begreifen, warum er dieses Mal davon abgewichen ist.
Unterschwellige Schuldgefühle folgen auf diese Abweichung von der Routine, aber er wird nicht wieder losziehen und die Waffe beseitigen. Er fühlt sich nicht nur schuldig, er fühlt sich … rebellisch.
Er zieht sich aus und legt sich hin. Er schaltet die Nachttischlampe aus und betrachtet die verschiedenen Schichten der Schatten an der Decke.
Er ist nicht müde. Sein Verstand ist rastlos, seine Gedanken springen mit solch nervtötender Schnelligkeit von einem Thema zum nächsten, daß der hyperaktive geistige Zustand bald in körperliche Unruhe umschlägt. Er wird zappelig, zupft an den Laken, zieht Decke und Kissen zurecht.
Auf dem Interstate Highway rollen riesige Lastwagen unablässig fernen Zielen entgegen. Der Gesang ihrer Reifen, das Dröhnen ihrer Motoren und das Wusch der Luft, die von ihnen verdrängt wird, bilden einen Teppich von Hintergrundgeräuschen, die normalerweise beruhigend wirken. Diese Zigeunermusik der Fernstraße hat ihn schon häufig in den Schlaf gelullt.
Aber heute nacht geschieht etwas Seltsames. Aus Gründen, die er nicht verstehen kann, ist dieses vertraute Mosaik von Geräuschen kein Schlummerlied, sondern ein Sirenengesang. Er kann ihm nicht widerstehen.
Er steht vom Bett auf und geht durch das Zimmer zum einzigen Fenster. Dort genießt er eine verschwommene nächtliche Aussicht auf einen unkrautbewachsenen Hügel und einen Ausschnitt des Himmels darüber – wie zwei Hälften eines abstrakten Gemäldes. Auf der Kuppe, an der Trennlinie zwischen Himmel und Hügel, werden die klobigen Pfosten einer Highwayleitplanke flackernd von vorbeifahrenden Scheinwerfern angestrahlt.
Er schaut halb in Trance nach oben und bemüht sich, Fahrzeuge in westlicher Richtung ins Auge zu fassen.
Die sonst melancholische Kantate des Highway ist heute verlockend, sie ruft ihn und macht geheimnisvolle Versprechungen, die er nicht versteht, aber dennoch erforschen möchte.
Er zieht sich an und packt seinen Koffer.
Draußen sind Parkplatz und Fußwege menschenleer. Autos stehen in Richtung der Zimmer und warten auf die morgendliche Weiterfahrt. In der Nähe klickt unablässig ein Getränkeautomat in einem
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