Die zweite Kreuzigung
Gefängnisstrafen geführt hatten. Bei solchen Gelegenheiten hatte Ethan sie kennengelernt. Er bewunderte ihre Stärke: eine Frau allein unter vielen skrupellosen Männern.
Sie führte ihn in die Küche, wo blinkende neue Geräte einen scharfen Kontrast zu den feuchten Wänden und Fenstern bildeten, die aussahen, als seien sie zwanzig Jahre lang nicht geputzt worden. In einem Metalltöpfchen mit langem Griff bereitete sie starken türkischen Kaffee, füllte ihn in zwei kleine Gläser und goss großzügig albanischen Weinbrand aus einer schlanken grünen Flasche mit dem Etikett Konjak Gjergj Kastrioti Skenderbeu hinzu. Sie verkorkte die Flasche sorgfältig wieder und stellte sie weg.
»Skenderbeu«, sagte sie. »Groß albanisch Held. Viele Kämpfe gemacht, viele Türken getötet. Großer Held für Albaner. Seine Fahne – Albaniens Fahne.«
Sie wies auf den doppelköpfigen geflügelten Adler und grinste. Dabei sah man, dass ihr ein Zahn fehlte. Sie holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Ethan erkannte die Marke. Es war
Priluky Osoblivi,
hergestellt in der Ukraine und geschmuggelt aus Albanien. Sicher hatte sie ganze Kartons davon.
Er kippte den Inhalt des Glases mit einem Schluck hinunter. Das bereute er sofort. Er hustete und prustete heftig. Lindita zog tief an ihrer Zigarette, ließ Rauchringe aufsteigen und kippte den Kaffee samt Kognak, ohne mit der Wimper zu zucken.
»In Albanien«, sagte sie dann, »du kein Mann. Nur Kinder husten.«
Als er wieder ruhiger atmen konnte, erklärte er ihr genauer, was er vorhatte. Sie nahm Block und Stift und machte sich ein paar Notizen. Er erzählte ihr von Sarah, von sich selbst und von Aehrenthal.
»Ich denke, er hat sie außer Landes gebracht«, sagte er dann. »Hältst du das für möglich?«
Sie nickte und steckte sich die nächste Zigarette an.
»Vielleicht. Vielleicht möglich.«
»Wenn das passiert ist, kannst du ihn finden?«
Sie zuckte die Achseln und verzog den Mund ein wenig, weder zu einem Lächeln noch zu einem Flunsch. Sie wollte wohl eine vage Möglichkeit andeuten. Dafür hatte Ethan keine Zeit.
»Wie viel das wert für dich, Inspector?«, fragte sie. »Hast du überhaupt Geld?«
Sie vereinbarten einen Preis für das Hacking und einen für den Pass. Wenn sie Sarah auf die Spur kam, dann musste er das Land sofort verlassen.
Mit ihrem eigenen Computer, einem iMac G5 mit einem 18-Zoll-Monitor, begann sie die Websites von einem Dutzend Luftfahrtvereinen in Österreich zu durchforsten, wobei sie die Suche immer weiter einschränkte. Sie hatte schon jede Menge Leute von Italien über die Alpen nach Österreich geschmuggelt, und ihr Deutsch war besser als Ethans. Über den Tisch gebeugt, ließ sie ihre tabakgelben Finger über das Keyboard huschen wie Möwen, die über Wellen dahinsegeln. Nach und nach kam eine Menge Fakten zusammen.
Aehrenthal hatte bei der Motorflug-Union Wien das Fliegen gelernt. Sein Training hatte er in deren Zentrum in Wien und auf einem kleinen Flugplatz in Bad Vöslau absolviert.Er war Mitglied des Wiener Luftfahrerverbandes in Bad Vöslau, wo eine Zeitlang seine seltene Bücker-Jungmann-Maschine Bü 131 aus dem Jahre 1940 stand. Die weitere Suche ergab, dass er auch dem Punitzer Flugbetrieb angehörte, einem Fliegerklub, dessen Basis der kleine Flugplatz Punitz-Güssing im Süden Österreichs war. In der Nähe von Bernstein gab es eine weitere Landemöglichkeit, eine kurze Graspiste bei Pinkafeld. Aber Lindita schüttelte den Kopf. Mit der Landung von Kleinflugzeugen an verborgenen Orten kannte sie sich aus. Eine Graspiste war immer eine riskante Sache.
Sie wählte Bad Vöslau als wahrscheinlichsten Zielort aus und drang in eine geschlossene Website, das Aeronautical Fixed Telecommunications Network, ein, über das die Flugsicherungsdienste Einzelheiten von Flugplänen austauschen. Wenn Aehrenthal einen Flug von irgendeinem Airport in Großbritannien angemeldet hatte, dann gingen die Daten zu Eurocontrol in Brüssel. Der Startflugplatz erhielt eine Bestätigung, und die Daten wurden an alle zuständigen Flugsicherungszentren weitergeleitet. Damit konnten die Informationen in mehreren Netzportalen aufgefunden werden. Für die ganze Operation brauchte Lindita zehn Minuten.
Am Morgen dieses Tages war ein Ambulanzflugzeug Beechcraft King Air B200, registriert bei einer Firma im österreichischen Eisenstadt, vom Flugplatz Kidlington bei Oxford mit dem Ziel Bad Vöslau gestartet. Die Landung war
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