Die zweite Kreuzigung
im Mund oder eine Todesvision vor den schlafblinden Augen. Immer wieder musste er in das Mausoleum mit seinem feuchten, muffigen Brodem zurückkehren, seinen an die Wand genagelten Großvater erblicken und zusehen, wie Sarah nackt ausgezogen und bedroht wurde.
Als er schließlich ganz erwachte, lagen die Alpträume noch lange über ihm wie dichter Nebel. Schreckliche Angst und Schuldgefühle marterten ihn. Er war auf der Fluchtvor einer Mordanklage. Wenn er Sarah nicht finden und retten konnte, würde er seine Unschuld nie beweisen können. Seine größte Angst galt jedoch nicht dem Gefängnis oder was er dort als Ex-Polizist zu erwarten hatte. Er fürchtete um Sarah, deren Gesicht er so klar vor sich sah wie sein eigenes im Spiegel, während er sich rasierte.
Er mietete ein Allradfahrzeug, einen Mercedes ML, und fuhr damit nach Süden. Nach dem Wiener Vorort Neudorf öffnete sich die ländliche Gegend weit nach Osten. Auf der Südautobahn, die wie ein Schwert zwischen Feldern zu seiner Linken und verschlafenen Städtchen zu seiner Rechten fuhr, die eine fast ununterbrochene Kette zwischen Wien und Wiener Neustadt bildeten, nahm er Tempo auf. Als der Verkehr dünner wurde, trat er aufs Gaspedal, womit er den Wagen knapp an die erlaubte Geschwindigkeitsgrenze von 130 km/h brachte.
Wenn die Bebauung zurückwich, sah man bewaldete Berge, die nach Westen in Richtung der Alpen anstiegen. Schnee, weiß wie Lilien, bedeckte die Felder, lag wie Mehlstaub auf den Bäumen, bedeckte die Dächer der vorüberfliegenden Häuser, als sollte er ihre Wärme schützen. Draußen waren drei Grad Frost. Die Luft war frisch und rein, der Himmel strahlend blau. Beim Fahren hatte er die Augen auf der Straße. Dabei gingen ihm düstere, bittere Gedanken durch den Kopf. Die Träume der Nacht hatte er immer noch nicht ganz abschütteln können, und obwohl die weißen Felder und die durchsichtige Luft ihn hätten aufmuntern sollen, blieb er finster und bedrückt. Furcht nagte an ihm wie eine Ratte, die Furcht, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, in der falschen Richtung zu suchen. Sarah konnte immer noch in England sein, ohne dass er es wusste. Aehrenthal konnte sie längst umgebracht, ihre Leichebeseitigt und sich in einen Schlupfwinkel in Österreich geflüchtet haben.
In einem versteckten Halfter an der Hüfte trug er die Pistole, die Linditas Mann ihm vor dem Schlafengehen gebracht hatte, eine Beretta 93R. Diese hatte zwei ungewöhnliche Besonderheiten für eine Handfeuerwaffe – einen Frontgriff, den man unterhalb des Laufes ausklappen konnte, um die Waffe mit beiden Händen zu halten, und eine Schulterstütze, die jetzt in Ethans Reisetasche lag. Der Mann hatte ihm eine Schachtel voller 20-Schuss-Magazine mit 9 mm Parabellum Patronen mitgebracht und Ethan gezeigt, wie man die Waffe auf Einzel-, Dauerfeuer oder halbautomatisches Schießen einstellte. Die Waffe gab Ethan etwas mehr Gelassenheit, aber in eine Schießerei verwickelt zu werden war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.
Hinter Baden wechselte er von der Autobahn auf die ER 59 und erreichte nach kurzer Fahrt über Nebenstraßen den Flugplatz von Bad Vöslau.
Aehrenthal war mit seiner Beechcraft dort am Tag zuvor um 9.30 Uhr gelandet. Er war mit einem Kopiloten angekommen. Die Beechcraft war als Ambulanzflugzeug ausgelegt und brachte eine Passagierin namens Ileana Paulescu.
Als Ethan das hörte, runzelte er die Brauen.
»Haben Sie die Frau gesehen?«
Er sprach mit einem Vertreter des Flugplatzbetreibers, der Flughafen Wien AG. Der Mann war sich nicht sicher, ob er einem Fremden Auskunft über Einzelheiten von Herrn Aehrenthals Flug erteilen sollte. Aber Ethan hatte seinen Polizeiausweis bei sich, den er zuvor beim Verhör als gestohlen angegeben hatte. Er knallte ihn auf den Tisch und war sich sicher, dass man ihn nicht nach seinem Pass fragen würde.
»Kriminaloberkommissar?«
Ethan nickte.
»Können Sie mir sagen, Herr … Kriminaloberkommissar Ushingwood …«
»Usherwood.«
»Natürlich, Entschuldigung. Warum suchen Sie diesen Mann?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber es ist dringend.« Ethan betete bei sich, dass der Mann nicht die Ortspolizei konsultierte.
»Verstehe.«
Hier wurde Ethan klar, dass die österreichischen Kollegen aus dem Spiel bleiben würden. Die sah der Mann auf seinem Flugplatz offenbar gar nicht gern.
Der Repräsentant, Herr Veit Schiegl, nickte wissend.
»Sie haben darüber noch nicht mit unserer Kriminalpolizei
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