Die zweite Kreuzigung
Steg. Aber im Winter wird wegen des Schnees wirklich kaum durchzukommen sein. Sehen sie, hier …« Sie fuhr mit der Hand über einen großen Teil der Karte. »… Das ist das Apuseni-Gebirge. Vom Vladeasa im Westen bis zum Trascau-Gebirge ganz imOsten sind da nur Wälder, Berge und Höhlen. Dort gibt es Wölfe und sogar Bären. Die halten zwar jetzt ihren Winterschlaf, aber manchmal wachen sie auch auf. Wölfe schlafen nicht. Sie sind jetzt ausgehungert und sehr gefährlich.«
Er verließ Oradea auf der Europastraße E60, um von Norden ins Vladeasa-Gebirge zu fahren. Das lag nicht sonderlich hoch. Der höchste Berg, der Vladeasa, maß etwa 2000 Meter, viel weniger als die höchsten Alpengipfel. Aber Ethan war nicht zum Bergsteigen gekommen.
Nach etwa 60 Kilometern geriet er in eine lange Schlucht zwischen steilen Bergen. Nebelschwaden klebten an den Hängen, und die Gipfel verschwanden in den Wolken. Überall lag tiefer Schnee, aus dem nur die Zweige der höheren Bäume ragten. Wenig wies darauf hin, dass hier Menschen lebten. Ab und zu brachte eine kleine Kapelle mit bunten Fresken am Straßenrand einen Farbtupfer in die öde Landschaft. Zweimal erblickte er in der Ferne einen hohen Kirchturm. Ein paar Autos und ein Bus, die in Richtung Oradea fuhren, kamen ihm entgegen. Er selbst überholte hin und wieder einen Pferde- oder Eselswagen.
Die Heizung des Dacia hatte alle Mühe, im Wageninneren etwas Behaglichkeit zu erzeugen. In einem Laden neben dem Reisebüro hatte er eine Steppjacke und eine dicke Hose erstanden, aber beim stundenlangen Stillsitzen am Steuer machte sich die Kälte immer stärker bemerkbar.
Schließlich erreichte er das Städtchen Huedin an einer Straßenkreuzung, das Tor zum Apuseni-Gebirge. Ein trüber Ort, den man wohl im Wesentlichen in der Ceauşescu-Zeit errichtet hatte. Die grauen Häuser wollten so gar nicht in diese ländliche Gegend passen, in die sie mit harter Hand verpflanzt zu sein schienen.
Er bog nach rechts ab und fuhr in Richtung Sâncraiu,das ein Székler-Dorf sein sollte. Wohin Ethan auch blickte, überall ragten bewaldete Berge auf. Sâncraiu
Als er in Sâncraiu einfuhr, war ihm, als befinde er sich in einem Themenpark zur Welt der Ungarn oder dem mittelalterlichen Transsilvanien. Hätte es nicht die Telefonleitungen und sehr vereinzelt Satellitenschüsseln auf den Dächern der Häuser beiderseits der schmalen Straße gegeben, hätte er geglaubt, er sei nicht nur in eine andere Gegend, sondern auch in eine andere Zeit geraten. Das Dorf musste sich über die Jahrhunderte kaum verändert haben. Die Leute machten einen fast altertümlichen Eindruck, ihre Kleider zeugten nicht nur von Armut, sondern von zäher Beharrlichkeit.
Die Häuser, viele blau gestrichen, duckten sich unter hohen Bäumen. Dünne graue Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen und verschmolzen mit dem grauen Himmel. Ethan erblickte zwei Kirchen, eine mit einer weißen, die andere mit einer tiefroten Turmhaube. Rumänisch-Orthodoxe waren hier in ein Meer ungarischer Reformierter geraten, wo sie offenbar ums Überleben zu kämpfen hatten. Ethan überlief ein Schauer. Er wusste fast nichts über diese Menschen, nur das Wenige, das er im Hotel in einer Broschüre für Touristen gelesen hatte. Er hielt am Straßenrand. Eine Gruppe von Leuten – alte Männer und Frauen, junge Burschen in schwarzen Lederjacken und ein paar junge Frauen mit Kopftüchern – musterten ihn mit unverhüllter Neugier.
Als er ausstieg, kam er sich vor, als sei er nach einer langen Seereise auf einer fernen Gewürzinsel gelandet. Er fühlte sich wie ein Exot, den man fürchten, hassen oder verspotten musste, vielleicht auch alles gleichzeitig. Niemand zeigte ein Lächeln. Niemand bot ihm ein Willkommen.Es war nicht die Zeit für Touristen, und er hatte keine Skier bei sich. Kurz gesagt, er verhielt sich völlig anomal, ein Eindringling, ein Mann von hinter dem glitzernden Vorhang, der zwischen diesen Menschen und der Außenwelt lag.
Kurz bevor er das Dorf erreichte, hatte es zu schneien begonnen. Jetzt fielen bereits dicke Flocken aus dem schieferfarbenen Himmel. Von den Bergen senkten sich die Wolken herab wie Kissen aus feuchter Watte.
Die Dame im Reisebüro hatte ihm empfohlen, den Dacia in Sâncraiu abzustellen und dort einen Wagen mit ein oder zwei Pferden zu mieten, der ihn zum Castel Lup oder zumindest in dessen Nähe bringen sollte. Als er in die Gesichter der Dorfbewohner sah, schlug ihm nur Gleichgültigkeit entgegen.
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