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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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schaffte ein paar Sitzgelegenheiten herbei und hieß sie um einen Tapeziertisch Platz nehmen, der mit einer farbbeklecksten Plane bedeckt war.
    Ein Novize brachte Gläser und eine Flasche
Vinars,
einen Weinbrand des Klosters, der in der ganzen Bukowina berühmt war. Sarah und Ethan standen noch unter dem Eindruck der Nachrichten über Ilonas Familie. Ebenso bestürzend wie die Morde war die Rundfunkmeldung, dass in Sâncraiu niemand der Polizei sagen wollte, wer dafür verantwortlich war. Aehrenthal hatte wieder einmal getötet und war davongegangen wie ein Mann, der auf einem Feld den ganzen Tag Vögel geschossen hat.
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte Gavril. »Auch mir hat dieser Mann gute Freunde geraubt. Ich kann mir vorstellen, was Sie durchmachen. Beginnen Sie ganz von vorn. Im Moment sind wir nicht in Eile.«
    Mitten in ihrem Bericht kamen sechs Zuhörer hinzu, die Vater Gavril herbeigerufen hatte. Zwei waren Mönche aus Bistrit‚a, die anderen vier kamen aus den Nachbarklöstern von Agapia und Secu bei Târgu-Neamt‚ im Norden sowie von Pâugárati und Horaita in der Nähe. Gavril stellte sie vor, so wie sie eintrafen, aber Ethan hatte die Namen Minuten später wieder vergessen. Er fuhr in seinem Bericht fort.
    Kurz vor Mittag gab es eine Unterbrechung. Vater Gavril wurde nach draußen gerufen und kehrte erst zwanzigMinuten später wieder zurück. Er war aschfahl im Gesicht, setzte sich und brauchte eine Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Ihm schien kaum bewusst zu sein, wer mit ihm im Raum war, denn er sprach zunächst Rumänisch. Was er mitzuteilen hatte, schien die anderen Mönche ebenso zu erschüttern wie ihn selbst.
    Als er aufblickte, sah er Ethan und Sarah an, als seien sie Geister, die er erst jetzt bemerkte.
    »Sie können sich sicher denken, dass auch ich schlechte Nachrichten erhalten habe«, sagte er dann. »Das ist ein schwerer Schlag für uns alle. Pater Iustin in Putna ist umgebracht worden. Sie haben ihn zu Tode gepeitscht. Wenn Sie das können, dann möchte ich Sie bitten, gemeinsam mit uns für seine Seele zu beten. Wenn sie auch nur ein Wort aus ihm herausgeprügelt haben, wohin Sie gegangen sind, ist unser aller Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
    Sie blieben über eine Stunde in der Kirche. Ethan und Sarah standen im Hintergrund und sahen zu, wie die Mönche und Priester sich zum Gebet versammelten. Dicke Wolken von Weihrauch zogen durch das Kirchenschiff, und hinter dem Ikonostas schwangen die Stimmen der Betenden auf und ab.
    Sie brachten die geweihte Ikone der Heiligen Anna herbei, die der aufgeklärte Herrscher des Byzantinischen Reiches dem Kloster vor vielen Jahren zum Geschenk gemacht hatte, als sein Sohn Konstantin XI. den Thron bestieg, nachdem Konstantinopel 1453 an die Türken gefallen war. Dem Heiligenbild wurden wundertätige Kräfte zugesprochen. Während ein Mönch es dem anderen reichte, wollte Ethan beinahe selbst an seine erlösende Wirkung glauben. Er hielt Sarahs Hand, zunächst, um ihr etwas Trost zu spenden, dann aber mit größerer Wärme, als sie beide erwartet hatten.
    Als die Stunde vorüber war, rief Vater Gavril seine sechs Begleiter zusammen und winkte auch Ethan und Sarah zu, ihm zu folgen.
    »Wir müssen diesen Ort verlassen«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass Pater Iustin etwas gesagt hat. Aber nicht jeder von uns ist so stark. Unsere junge Freundin ist nicht reisefähig. Ich habe vorhin den Arzt gefragt, und er hat kategorisch angeordnet, dass sie hierbleibt. Wir haben ein kleines Nonnenkloster in der Nähe, wo sie in guten Händen ist. Man wird sie dorthin bringen.«
    Sie konnten sich nur kurz von Ilona verabschieden, weil die anderen zum Aufbruch drängten. Sie schien ihnen wie tot. Sie hatte alles verloren, was ihr etwas bedeutete. Es war nicht Trauer, die sie empfand, denn sie hatte etwas verloren, das mit Trauer über die Vergänglichkeit der Welt nicht zu bewältigen war. Ihr Gesicht war rot und verschwollen, sie brachte kein Wort Englisch heraus. Ethan fühlte sich schrecklich schuldig, dass er sie, ohne nachzudenken, in diese Gewaltorgie hineingezogen hatte. Ihre Bereitschaft, zu helfen, hatte ihr Leben zerstört und das ihrer Angehörigen vernichtet. Sarah setzte sich zu ihr ans Bett und sprach von ewiger Dankbarkeit. Sie versuchte ihr zu erklären, wie viel sie geleistet habe, um Aehrenthal und dessen wahnsinnige Pläne zu durchkreuzen.
    »Ich werde ihn für dich töten«, sagte Sarah, ohne zu wissen, ob sie dazu in der Lage

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