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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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aufzufüllen. Dafür trug er einen Krug Olivenöl und einen Beutel mit Kerzen bei sich. Die Lichter in der Kirche durften nie verlöschen.
    Von außen drang nur wenig Helligkeit herein. Etwas kam von der Turmlaterne, aber das Gebäude hatte keine hohen Fenster mit bunten Glasscheiben, die Licht und Farbe hätten hereinbringen können. Dafür waren Kerzen und Öllampen da. Überall im Kirchenschiff und an denPfeilern waren große Ständer mit dicken Opferkerzen aufgereiht. Eine Aura der Frömmigkeit umwehte sie, die in die Lungen des jungen Mönchs eindrang wie ein tröstender Hauch. Weihrauch wandelte die Aura in Duft, es roch nach Speik und Ysop, Räucherharz und Sandelholz, Onycha und Myrrhe. Die Kirche war noch ganz darin eingehüllt, das hohe Dach und die Heiligen sah er nur durch einen dünnen, schwebenden Schleier.
    Geschäftig lief Marku hin und her und erledigte seine morgendliche Pflicht. Dabei spulte er schweigend ein Gebet nach dem anderen ab, um die trüben Gedanken zu vertreiben, die ihn permanent bedrängten. Als er mitten im Kirchenschiff eine der größeren Lampen auffüllte, fiel ihm etwas auf. Zuerst wusste er nicht genau, was er da sah, aber er spürte, etwas war anders als sonst. Jemand hatte einen großen Gegenstand vor dem Ikonostas liegenlassen, der jetzt das Gold der Ikonen verdeckte.
    Damit nicht einer seiner Novizenbrüder Ärger bekam, der etwas an den falschen Platz gestellt hatte, lief er herzu, um den Fehler zu korrigieren, bevor ihn jemand anderer bemerkte.
    Um besser sehen zu können, rieb er sich die Morgentränen aus den Augen. Nun sah er klar. Nur allzu klar.
    Die Schreie des jungen Mannes übertönten das Hämmern der
toaca,
den Wind, der um die Kirche strich, und die Morgenrufe der Vögel. Er schrie so lange, bis endlich jemand kam. Sanfte Hände legten sich um seine Schultern, und man führte ihn fort.
    Man hatte Pater Iustins Mönchsgewand über dem Rücken aufgerissen und ihn geknebelt. Jemand hatte ihn mit Seilen an den Ikonostas gebunden, und ein weiterer, es musste ein starker Mann gewesen sein, hatte ihn ausgepeitscht,während ein dritter ganz nahe bei ihm gestanden hatte, um die Worte zu verstehen, falls er etwas sagen sollte.
    »Wohin sind sie gefahren?«, fragte dieser Dritte. »Du weißt, wer ich bin. Du weißt auch, dass du oder deine Freunde mich nicht aufhalten können. Ich habe, was ich wollte. Ich brauche deine Freunde nur, damit sie mir den Ort zeigen, wo die Reliquien gefunden wurden. Ich will die Gebeine, wie du sicher längst erraten hast. Sag nur das eine Wort, alter Mann, und ich lasse dich in Ruhe. Ich will dir nichts Böses, aber ich werde bekommen, wonach ich suche. Es liegt an dir, ob du leiden musst. Nur ein Wort, nur ein Hinweis. Mein Freund führt die Peitsche gut, und er wird sie dich spüren lassen, bis du nicht mehr weißt, ob du tot oder lebendig bist. Bis du mir sagst, wohin sie gefahren sind.«
    Von Pater Iustin kam kein Laut. Sie rissen ihm die Kleider auf und banden ihn an den Ikonostas zwischen einem Bild der Jungfrau und einem von Johannes dem Täufer. Sie stopften ihm einen Lappen in den Mund, damit er nicht schrie, und der Mann mit der Peitsche spuckte ihm auf den nackten Rücken. Das alles geschah ganz unaufgeregt ohne alle moralischen Gewissensbisse oder Furcht vor den Folgen. Egon Aehrenthal hatte kein Gewissen, nicht eine Spur davon, und er hatte den anderen beigebracht, dass Gewissen eine Schwäche sei, die man in sich unterdrücken müsse, so wie die Mönche von Putna gegen Wollust und Gier ankämpften.
    Der erste Schlag, von beherrschtem Zorn getrieben, fiel heftig aus. Iustins Haut sprang auf, und Blut spritzte in die kalte Luft. Fasziniert sah Aehrenthal zu, wie die Peitsche stieg und fiel, wie der Leib des Mönchs vor Schmerz wie von Feuer zusammenzuckte, wie sein Rücken immer mehrvon offenen Wunden überzogen wurde, aus denen das Blut strömte.
    »Stopp«, sagte Aehrenthal und hob den Arm. Die Peitsche blieb mitten in der Luft hängen. Aehrenthal zog den feuchten Lappen aus Vater Iustins Mund.
    »Ich höre sofort damit auf«, sagte er, »wenn du nur ein Wort sagst. Ich brauche einen Namen, einen Ort oder einen anderen Hinweis. Du hast genug gelitten. Auch Jesus hat nur 39 Peitschenhiebe ausgehalten. Du hast jetzt ein Dutzend bekommen.«
    Die Lippen des Priesters bewegten sich, aber heraus kamen immer nur die ersten Worte des
Ave Maria
.
    Wieder stopfte Aehrenthal dem alten Mann den Lappen in den Mund. Der ist wohl bald erledigt,

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