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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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dachte er bei sich, denn er sah nicht so aus, als könnte er die biblische Auspeitschung in voller Länge ertragen. Er nickte, und die Schläge gingen weiter.
    Als sie bei 70 angelangt waren, wusste Aehrenthal, dass er von dem Priester nichts erfahren würde. Immerhin sah er diese Folter auch als symbolische Handlung für dieses oder jenes, was genau, wusste er selber nicht. Pater Iustin starb zwischen zwei Schlägen. Sein Rücken war völlig zerfetzt und der Mann nur noch eine einzige blutende Masse. Sie ließen ihn liegen, wie er war, und gingen aus der Kirche, als hätten sie gerade das Mitternachtsgebet verrichtet.
    So fand ihn der junge Mönch am Morgen – wie ein Stück Fleisch in einem Metzgerladen. Ein Zeichen, aber niemand konnte genau sagen, wofür.
     
    Sie fuhren weiter nach Süden in Richtung Piatra Neamt‚, der wichtigsten Stadt der Ostkarpaten im nördlichen Teil derBukowina. Von dort ging es sieben Kilometer nach Nordwesten und dann auf die Hauptstraße von Piatra Neamt‚ nach Bicaz. Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel, das Kloster Bistrit‚, erreicht.
    Drinnen fragten sie nach Vater Gavril Comaneci. Man führte sie in einen düsteren, ungeheizten Raum und hieß sie warten. Nach zehn Minuten trat ein Mönch ein, der einen langen weißen Bart hatte und dem Haar aus Ohren und Nase wuchs. Er erkundigte sich, was sie von Vater Gavril wollten, und Ilona erklärte lang und eindringlich ihr Anliegen. Der Mönch runzelte mehrmals die Brauen, nickte dann und verschwand.
    Wieder vergingen ein paar Minuten. Ein anderer Mönch erschien. Er trug einen schwarzen Bart und mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Seine kleine runde Kopfbedeckung roch nach Leim, und er hatte Farbflecke an den Händen. Comaneci war Künstler und gegenwärtig mit der Restauration der Fresken im Kloster beschäftigt. Aus seiner Arbeit gerissen, schaute er etwas irritiert drein. Er hatte tiefblaue Augen und einen Blick, der einem durch und durch ging. Ilona kam ins Stottern, als sie zu erklären suchte, wer sie waren und was sie zu ihm geführt hatte.
    Aber Pater Iustins Name änderte alles. Comaneci hieß Ilona schweigen und bat die Reisenden auf Englisch, ihm zu folgen.
    Als sie den unwirtlichen Warteraum verlassen hatten, fiel Ilona ein, dass sie sich noch nicht bei ihrer Familie gemeldet hatte. Der Akku ihres Handys war leer, und sie hatte das Ladegerät vergessen. Vater Gavril führte sie ins Klosterbüro, wo das einzige Telefon stand. Sie rief zu Hause an. Sie wusste, dass sich ihre Eltern um sie Sorgen machen würden. Sie dachten sicher, sie sei einfach verschwunden oder ihr seietwas zugestoßen, als sie das letzte Mal in die Berge ging. Man wusste, dass sich in Aehrenthals Schloss unheimliche Typen herumtrieben, und Gerüchte über Vergewaltigungen liefen um, die aber nie bewiesen wurden.
    Das Telefon klingelte und klingelte. Das kam ihr merkwürdig vor. Um Weihnachten musste jemand zu Hause sein. Ihre Mutter ging ohnehin kaum aus dem Haus. Minuten verstrichen. Ilona legte auf. Verwundert entschloss sie sich, ihre Großmutter anzurufen, die zwei Straßen weiter wohnte. Sie nahm den Hörer wieder auf und gab die Vorwahl ein, dann die Nummer des Apparates. Die alte Frau (eigentlich war sie erst Ende fünfzig) lebte allein, seit ihr Mann Petrica vor fünf Jahren verstorben war.
    Diesmal wurde schon Sekunden später abgenommen. Aber es war nicht ihre Großmutter.
    »Hallo?«, sagte Ilona. »Wer ist dort?«
    »Ilona? Bist du das?«
    »Ja, wer …?«
    »Hier ist Cosmina Brat‚ianu, meine Liebe. Die Nachbarin deiner Großmutter. Willst du sie sprechen?«
    »Was ist mit ihr? Sag bloß nicht, sie ist krank. Ihr ging es doch gut, als ich sie das letzte Mal gesehen habe …«
    »Das ist es nicht. Sie ist nicht krank, sie … ist jetzt bei deinen anderen Großeltern. Ich kümmere mich um das Haus. Ilona …«
    Ihr fiel auf, dass die Stimme der Frau zitterte. Sie kannte sie, seit sie denken konnte, nicht besonders gut, aber gut genug. Sie hörte sich nicht an wie gewöhnlich.
    »Was ist denn los?«, fragte sie.
    »Ilona … Du musst jetzt stark sein. Ich habe schlimme Nachrichten für dich …«
     
    Als Ilona später in der Krankenstation des Klosters zu Bett gebracht war, um sich von dem Schock zu erholen, und die Mönche jemanden nach Piatra Neamt‚ geschickt hatten, um einen Arzt zu holen, bat Gavril Ethan und Sarah in sein Arbeitszimmer, wo er sein Material aufbewahrte und an den verschiedensten Dingen gleichzeitig arbeitete. Er

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