Die zweite Kreuzigung
Embryonen geklont, die sechs Monate lang lebten. Jetzt arbeiten sie an einer zweiten Serie und sind sicher, dass sie sie zur vollen Reife bringen werden. Sie haben Freiwillige, die sich die Föten in einem frühen Stadium einpflanzen lassen und tragen, solange es geht. Die Lage wird sich schlagartig ändern, wenn die erste Freiwillige tatsächlich entbindet. Ich glaube, die Frauen stehen in einer Art Wettbewerb miteinander.«
Sarah schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht erkennen, wohin das führen sollte.
»Sicher«, sagte sie, »kommt die Hälfte der Gene von den Frauen. Die können jeder beliebigen Abstammung sein. Sie sind vielleicht nicht einmal Jüdinnen, ganz zu schweigen von …«
»Aehrenthal würde niemals jüdische Frauen einsetzen, nicht einmal für diesen Zweck. Die Frauen sind auch nicht von Bedeutung. Eine wird auserwählt werden, das Christuskind auszutragen, was für sie eine große Ehre ist. Aber sie wird nichts zum Stammbaum beisteuern. Der Embryo wird im Reagenzglas erzeugt und erst danach in ihre Gebärmutter eingepflanzt. Wenn Aehrenthal Zellen von Marias und Jesus’ Gebeinen gewinnen könnte, wäre das eine ideale Kombination.«
»Ist das nicht noch reine Zukunftsmusik?«, fragte Ethan.
»Das Klonen? Überhaupt nicht.«
»Nein, ich meine das Kind. Es muss jahrelang heranwachsen, bevor es irgendeine Bedeutung gewinnt.«
»Nicht für Aehrenthals Anhänger. Wenn sie glauben, dass er das Christuskind hat, dann werfen sie sich ihm zu Füßen. Er will selber so lange Führer sein, wie es geht.«
»Und wenn das Kind heranwächst und so wird … wie Christus?«
»Dann hat es eben eines Tages einen Unfall. Aber jetzt muss ich zum Waffentraining. Sie beide bleiben am besten hier.«
An den übrigen Tagen dieser Woche fanden in den Bergen oberhalb ihres Refugiums Waffenübungen statt. Ethan ging einige Male mit und gab seine Erfahrungen im Schießen weiter, so gut er konnte. Sarah bestand darauf, ebenfalls zu lernen, wie man mit den Waffen schoss, die sie bei sich hatten. Die Zeit reichte nicht, um ihr größere Sicherheit zu vermitteln, aber sie beherrschte nun diewichtigsten Griffe und konnte alles von der Pistole bis zur Maschinenpistole mit respektablen Ergebnissen benutzen.
Gavril war viel mit den anderen Mönchen zusammen. Sie hatten grimmige Mienen. Wussten sie doch, dass Aehrenthal in Sarah und Ethan die einzigen Personen vermutete, die von der Existenz der Oase Ain Suleiman und der verschwundenen Stadt Wardabaha Kenntnis hatten. Sie umzubringen und jeden, der mit ihnen in Kontakt stand, musste eine seiner Prioritäten sein. Wenn er sie fand, gab es einen Kampf auf Leben und Tod, gegen Killer, die jedes lebende Wesen rücksichtslos beseitigten, das sich ihnen in den Weg stellte.
Das Haus war ziemlich marode und trug ein Dach mit Holzschindeln. Es war in den 1920er Jahren im traditionellen Stil der Bukowina von einem Schüler Alexander Bernardazzis erbaut worden. Über die Jahre waren viele Anbauten hinzugekommen. Krumme Korridore verzweigten sich wieder und wieder, Türen gaben unerwartete Durchgänge frei, Fenster immer neue Ausblicke. Die meisten Bewohner übernachteten in einem Schlafsaal – Männer oder Frauen, je nach den Gruppen, die sich hier aufhielten. Bewohner, die schon länger dort lebten, wohnten in Einzelzimmern. Außerdem existierten zwei Schlafzimmer für Ehepaare, wo man von Zeit zu Zeit Priester unterbrachte, die mit ihren Ehefrauen anreisten. Sarah und Ethan erhielten je ein Zimmer, wo die Betten größer und die Matratzen dicker waren. In jedem standen außerdem zwei Sessel und ein Tischchen. An den Wänden hingen Ikonen wie überall im ganzen Haus.
In der Küche klapperten Töpfe, und man hörte die Köche miteinander scherzen.
»Lass uns hinuntergehen«, sagte Ethan. »Ich möchte über Ilona sprechen.«
Im vorderen Teil des Hauses befand sich ein größerer Raum, der für schweigende Gebete und Meditation in kleinen Gruppen benutzt wurde. Er war den höheren Mönchen vorbehalten, aber jetzt versammelten sich darin Gavril und seine Freunde. Im Unterschied zu den anderen Räumen hing hier nur eine einzige Ikone, eine Kopie der berühmten Gottesmutter von Wladimir aus dem 19. Jahrhundert, die das Kind mit einem Arm um den Nacken von Maria zeigt. Das Bild war mit einem
oklad,
einer breiten Einfassung ausgestattet, die nur die Gesichter und Hände der Heiligen und die Füße des Kindes frei ließ. Sarah war ihm verfallen, seit sie den Raum zum ersten Mal betreten
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