Die zweite Kreuzigung
erhalten, als wir vom Waffentraining zurückkamen. Aehrenthal hat Leute in England. Die sind in Woodmancote Hall gewesen und haben das Tagebuch Ihres Großvaters gefunden. So sind sie an die Koordinaten gekommen. Während wir hier miteinander reden, ist Aehrenthal bereits in Libyen.«
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Oea
Nach Libyen zu gelangen war das eine. Die Genehmigung zu erhalten, mit einer Expedition tief in die Wüste zu ziehen, war etwas ganz anderes. Sarah hatte einen falschen Pass in der Tasche, den ihnen Lindita zugespielt hatte. Sie reisten mit einer Gruppe von sechs Mönchen. Keiner trug die Soutane. Sie hatten einen ganzen Packen falscher Dokumente bei sich, die vom Centrul de Istorie Comparataa Societatilor Antice, dem Zentrum für Vergleichende Geschichte und Gesellschaft des Altertums der Historischen Fakultät der Universität Bukarest, ausgestellt waren. Telefon- und Faxnummern sowie die E-Mail-Adresse führten alle zu einem Büro in Piatra Neamt‚, wo sie von Leuten in Empfang genommen und beantwortet wurden, die in Hintergrund und Pläne der Expedition eingeweiht waren.
War es schon schwierig, nach Ain Suleiman zu gelangen, so stellte die Beschaffung von Waffen ein echtes Problem dar. Gavril kannte Aehrenthal und wusste, dass er nicht unbewaffnet reisen werde. Es war durchaus möglich, dass beide Teams irgendwo aufeinandertrafen, am wahrscheinlichsten wohl in Ain Suleiman, wenn sie überhaupt dorthin gelangten. Sollte es zu einem Kampf kommen, mussten sie vorbereitet sein.
In Tripoli, dem Oea des Altertums, bat Gavril Ethan eines Tages vor das Hotel hinaus.
Als sie vor der Tür standen, blickte Ethan sich um. Er sah Sarah an einem Fenster im Parterre sitzen und auf die Straße hinausschauen. Eine kleine Sandhose, die nach Tagenohne Regen Gott weiß woher kam, tanzte neckend ein Weilchen vor ihr auf und ab, bis sie sich im Verkehr verlor. Sarah schien sie nicht zu bemerken. Vielleicht sah sie Derwische, aber nur in ihrem Kopf, wo sie in ihren Fantasiekostümen wie Atome umeinanderkreisten. Aus einem Lautsprecher im Hotel tönte ein Schwall arabischer Musik, verwirrend und leidenschaftlich, die weithin hallende Melodie von den Schlägen einer kleinen Trommel getragen.
»Wir müssen hier fort«, sagte Gavril. »Dies ist immer noch eine Diktatur. Sie hat ihre Augen überall, und sie beobachtet vor allem Ausländer. Wir gehen in diese Richtung. Und versuche, etwas harmloser dreinzuschauen.«
Sie entfernten sich vom Hafen in Richtung der Altstadt, der Medina. Pater Gavril, jetzt in Jeans und schwarzer Lederjacke, kannte diesen Stadtteil, der noch aus der Zeit vor der italienischen Besatzung stammte, ein Gewirr von Märkten, Werkstätten, Moscheen und Koranschulen. Ethan musste an seinen Großvater denken. Ob er wohl durch diese Gassen gegangen war, bei diesen Bäckern Brot gekauft hatte, durch diese leuchtend bemalten Türen geschritten war? Alles machte einen zeitlosen Eindruck, wenn man die Ghaddafi-Porträts in den Souvenirläden oder die Tuben mit Colgate-Zahnpasta übersah. Gavril führte Ethan zu einem alten Café gegenüber dem türkischen Glockenturm. Ein Junge wollte ihre Schuhe für ein Dinar das Paar putzen. Kaum hatten sie sich auf einem Stuhl niedergelassen, da war er auch schon bei der Arbeit, benutzte flüssige Schuhcreme und Spucke, wienerte und polierte, als hinge sein Leben von dem Glanz ab, den er zu erzeugen vermochte.
An anderen Tischen spielten alte Männer Backgammon. Mit geschickten Fingern und erstaunlicher Geschwindigkeit schoben sie die Steine auf den altehrwürdigen Spielbretternhin und her. Von Zeit zu Zeit hielten sie inne, um einen Zug duftenden Rauches aus ihrer Wasserpfeife zu nehmen.
Gavril bestellte Minzetee, einen Sud von grünem Tee in einer silbernen Kanne, die bis zum Rand mit Minzeblättern und Zucker gefüllt war. Das Gebräu war fast widerlich süß, aber sehr erfrischend. Zum Tee wurde ein Teller mit Baklava, den türkischen Nuss-Honig-Schnitten, gereicht.
»Diabetiker hätten es hier schwer«, bemerkte Ethan.
Gavril nickte und nahm einen Schluck von dem heißen Tee.
»Ethan«, sagte er dann, »ich brauche Ihre Hilfe. Das soll nicht heißen, dass Sie uns nicht schon viel geholfen haben. Aber das ist … etwas anderes.«
»Nur zu.«
»Ich sagte Ihnen schon, dass wir Waffen benötigen. Meine Leute sind gut darauf trainiert. Wir kennen Aehrenthal und wissen auch, dass wir durchaus auf ihn stoßen können. Dafür müssen wir gerüstet sein.«
»Und Sie
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