Die zweite Wirklichkeit
hatte.
Das neuerliche Rascheln in den Büschen seitlich des Weges, die hastigen Schritte, das keuchende Atmen und die erschrockenen Stimmen drangen wie zeitverzögert zu ihr durch. Sie nahm sie erst dann wahr, als sie in der Wirklichkeit längst vorüber waren und jemand die Furie gepackt und von ihr fortgezerrt hatte.
Als Seven es schaffte, den Schmerz am Hals zumindest halbwegs zu verdrängen und den Kopf etwas anzuheben, glaubte sie sich in das Szenario eines schlechten Horrorfilms versetzt.
Ein junger blonder Mann stand dem schwarzhaarigen Mädchen gegenüber, das sich gerade fauchend wie eine gereizte Katze auf alle Viere erhob.
Daran war noch nichts wirklich Absurdes.
Grotesk wurde die Situation durch das, was der Fremde in der Hand hielt und der anderen entgegenreckte.
Ein Kruzifix, klein und fast unscheinbar. Aber beeindruckend in dem, was es bewirkte.
Das Mädchen fixierte das kleine Kreuz flackernden Blickes und wich zurück, auf Händen und Knien kriechend, während der junge Mann die Distanz gleichhielt, indem er ihr Schritt um Schritt folgte.
»Weiche«, flüsterte er, »weiche .«
Dann beging er einen Fehler.
Er riskierte einen kurzen Blick in Seven van Kees' Richtung. Und das schwarzhaarige Mädchen nutzte diesen Bruchteil einer Sekunde!
Mit einem pantherhaften Satz überwand es die Strecke zu dem jungen Mann hin, prallte gegen ihn. Er stürzte, das Kruzifix rutschte ihm aus den Fingern. Doch irgendwie schaffte er es, die Knie anzuwinkeln. Dadurch verhinderte er, daß die andere ihm im wahrsten Sinne des Wortes an die Kehle gehen konnte.
Aber ihre Blicke begegneten sich; nicht länger beeinträchtigt von dem, was das Kreuz zwischen sie gelegt hatte. Schweigend und reglos sahen sie einander an.
»Duncan ...«, flüsterte Lilith.
Er erwiderte nichts.
»Wir sollten uns nie begegnen«, sagte sie leise und wie von tiefer Trauer erfüllt.
Dann ließ sie übergangslos von ihm ab, sprang auf und flüchtete, von einer gänzlich anderen Panik angetrieben als jener, die das Kruzifix in ihr entfacht zu haben schien ...
Grollender Donner ließ den Erdboden sacht vibrieren, und unsichtbare Blitze rasten für eine Sekunde knisternd über den strahlendblauen Himmel über Sydney .
»Meine Güte, was war das? Und vor allem: Wer war das?«
Die heisere Stimme riß den jungen Priesteranwärter aus einem Zustand, der einer Trance sehr nahe kam. Ein klein wenig mochte auch Erschöpfung dabei eine Rolle spielen, denn die Verfolgung des Mädchens durch beinahe die halbe Stadt hatte an seinen Kräften gezehrt. Sie hatte beinahe das Tempo eines fliehenden Känguruhs an den Tag gelegt.
Warum er Lilith Lancaster jedoch gefolgt war, wußte er indes nicht zu sagen. Irgendwie war ihm keine Wahl geblieben, hatte sein Denken nichts anderes zugelassen, als es einfach zu tun. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er am Mittag das Haus 333 an der Paddington Street aufgesucht hatte.
Seit heute morgen schien alles anders zu sein. Reduziert auf eine Sache, die er auf fremdes Geheiß hin zu der seinen machen sollte. Und irgendwie hatte er die vage Ahnung, daß etwas wie eine Lebensaufgabe daraus werden konnte .
Der junge Mann ging hinüber zu Seven van Kees und beugte sich zu ihr hinab.
»Geht es Ihnen gut? Alles in Ordnung?« fragte er besorgt, aber doch mit jenem Lächeln, das Frauenherzen höherschlagen ließ. Unübersehbar auch das dieser blonden Schönheit. Daß er zugleich etwas wie bittere Selbstzweifel in ihrem perfekt geschminkten Gesicht entdeckte, konnte er sich jedoch nicht erklären .
»Ja, ich glaube schon«, erwiderte sie schließlich. Sie fuhr sich mit der Hand über den Hals und verzog das Gesicht.
»Lassen Sie mal sehen«, bat der junge Priester-Aspirant und hob behutsam ihr Kinn an. »Nur ein Bluterguß«, meinte er, nachdem er sich die »Bißstelle« besehen hatte.
»Kennen Sie diese - Wahnsinnige?« fragte Seven. Mit dem Kinn wies sie in jene Richtung, in der Lilith verschwunden war.
Duncan lächelte, ein bißchen kläglich.
»Ja und nein. Ich sollte eigentlich - auf sie aufpassen«, erklärte er zögernd, selbst nicht recht wissend, warum er glaubte, was er da von sich gab.
»Dann sollten Sie Ihren Job ein kleines bißchen sorgfältiger tun«, zischte Seven van Kees.
»Ja, das sollte ich wohl.«
Seven erhob sich. »Trotzdem - danke.« Sie sah an sich hinab. Ihr Kostüm war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen.
»Verdammt!« entfuhr es ihr.
Aber der Ärger um die
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