Die zweite Wirklichkeit
ruinierten Klamotten war im Augenblick nicht ihr größtes Problem. Viel schwerer wog ein anderes.
Sie fuhr sich erneut über den Hals und die schmerzende Stelle über der Schlagader.
Wie, um alles in der Welt, sollte sie Beth MacKinsay diesen gewaltigen »Knutschfleck« plausibel erklären? Sollte sie ihr sagen, sie wäre von einer Wahnsinnigen angegriffen worden, die sich offenbar für eine Vampirin gehalten hatte?
Beth würde sich totlachen!
Oder Seven die Augen auskratzen .
*
Zwischenspiel
Blitz und Donner erschütterten für die Dauer eines wütenden Gedankens die Traumwelt.
Etwas lief nicht so, wie Gabriel es sich gewünscht und vorgestellt hatte. Etwas funkte ihm dazwischen. Eine Macht, die ihm auf unangenehme Weise vertraut vorkam. Und er hätte sie vielleicht erkannt, wenn sich nicht etwas gänzlich Fremdes ihrer bedient hätte. Etwas Leuchtendes, gleißend Helles, ein überirdisch strahlendes LICHT .
Doch das Kind hatte seinen Zorn rasch wieder unter Kontrolle.
Er stand noch ganz am Anfang des Spiels. Und es gab noch eine Vielzahl von Figuren, derer er sich bedienen konnte. Ihm standen die Begegnungen eines ganzen Lebens zur Verfügung. Er mußte nur in sie fahren.
Gabriel träumte weiter.
Jenen Traum, der nicht der seine war, den er aber für sich zu nutzen wußte.
*
Sydney, Australien?
»Ich mache mir Sorgen.«
»Das mußt du nicht.«
»Sie ist schon so lange weg. Und sie schien so - verwirrt.«
»Du wirst sehen, sie kommt bald zurück.«
»Wenn ihr nun etwas passiert ist?«
»Dann hätten wir sicher schon davon erfahren.«
»Oh, Sean, wir müssen doch irgend etwas tun können!«
»Was sollen wir denn tun?«
»Creanna, Sean - beruhigt euch. Lilith wird .«
Lilith vernahm die Stimmen ihrer Eltern wie Echos aus einer anderen Welt, in der kein Platz war für Entsetzen, für Böses, für Wahnsinn. Die Stimmen ihrer Eltern und jene andere, die ihr vertraut vorkam, zu der ihr aber im Augenblick weder das zugehörige Gesicht noch der Name einfallen wollten. Es grenzte im Grunde schon fast ein Wunder, daß sie die ihrer Eltern erkannte. Ebenso wie die Tatsache, daß sie offenbar irgendwie den Weg nach Hause gefunden hatte .
»Was war das?«
Creannas Stimme klang erschrocken und fiel in jenen dumpfen Laut, der draußen in der Eingangshalle entstanden war. Als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen.
Licht flammte auf, schmerzte in Liliths Augen, ließ sie tränen. Stöhnend preßte sie die Lider aufeinander.
Nichts sehen, nichts mehr sehen, war einer ihrer Wünsche.
Schritte, schnell und hart, Stimmen, entsetzt und laut. Lilith versuchte die Ohren mit den Händen zu verschließen.
Nichts hören, nichts mehr hören, war ihr zweiter Wunsch. Der allerdings nicht in Erfüllung ging.
»Lilith! Bei den Hohen, was ist mit dir?« vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. Bei den Hohen ...?
»Brian, hilf mir«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. »Wir bringen sie nach oben in ihr Zimmer.«
Lilith fühlte sich von Händen berührt, dann schwebend, fliegend. Höher hinauf, schnell und doch behutsam vorangetrieben, bis sie wie auf Wolken landete, weich und duftend. Der vertraute Geruch ihres Zimmers, ihres Bettes. Sie fühlte sich besser - ein winziges bißchen nur, aber in ihrer momentanen Verfassung war sie selbst dafür dankbar.
»Wir müssen einen Arzt rufen«, sagte Creanna aufgeregt.
»ich weiß nicht ...«, meinte Sean Lancaster.
»Nein«, erklärte der Mann, den ihr Vater vorhin Brian genannt hatte. Sein Gesicht tauchte aus den rotierenden blutroten Nebeln in Liliths Kopf auf, verschwommen und mehr zu ahnen denn wirklich zu erkennen. Nur schien ihr die Stimme . mit einemmal weniger vertraut als noch vor kaum einer Minute. Als würde eine andere, fremde sie durchsetzen.
»Was hast du vor?« flüsterte Creanna fast atemlos.
»Laßt mich mit Lilith allein, hm?« bat der Mann, der Brian sein mußte. »Ich werde mich mit ihr unterhalten. Vielleicht verrät sie mir, was mit ihr los ist, okay?«
»Na gut«, meinte Sean, »versuch dein Glück. Ich ... wir vertrauen dir.«
»Aber ...«, setzte Creanna an.
Liliths Vater gab einen beruhigenden Ton von sich. Leise Schritte entfernten sich. Ein Tür fiel kaum hörbar ins Schloß.
»Lilith?«
Sie schwieg, hielt die Augen geschlossen. Was immer jenseits ihrer Lider war, mochte es auf den allerersten Blick auch noch so harmlos erscheinen, würde früher oder später etwas Schreckliches gebären -etwas, das nur für sie allein bestimmt war.
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