Die zweite Wirklichkeit
Sie wollte nichts mehr sehen - nichts mehr sehen und empfinden müssen.
»Ich bin's«, sprach der andere weiter. Sie konnte spüren, daß er sich auf die Kante ihres Bettes gesetzt hatte. Die Matratze federte ein wenig nach. »Brian Secada. Du kennst mich doch?«
Sie nickte, gegen ihren Willen.
Ja, sie kannte ihn. Brian Secada war ein Bekannter ihrer Eltern. Ein Wissenschaftler, der sich mit der Parapsychologie befaßte im Auftrag irgendeines ominösen Instituts. Aber man sah ihm seine »spin-nerte« Profession nicht an; er war nicht verschroben oder gar frea-kig, wie man ihn sich vielleicht vorgestellt hätte. Ein unauffälliger 45jähriger, eine gepflegte Erscheinung.
Seine Stimme klang ruhig, fast lahm. Irgend etwas darin erinnerte Lilith an einen träge dahinfließenden Bach, der sich durch eine sattgrüne und herrlich blühende Idylle wand, sanft murmelnd, beruhigend .
»Entspanne dich, Lilith«, redete er auf sie ein. »Versuche an nichts zu denken. Alle Gedanken verschwinden, treiben fort, weit fort, bis du sie nicht mehr siehst und spürst. Ruhe fließt in dich, tiefe Ruhe. Deine Arme werden schwer, und du fühlst dich wohl. Laß dich sinken und fallen, nichts kann dir geschehen .«
Lilith genoß es, genau das zu tun, was Brian Secada ihr hieß. Für eine Weile. Dann stieß seine Stimme - oder etwas darin - wie gegen eine unsichtbare Mauer, die weit jenseits ihres eigentlichen Gehörs zu liegen schien. Etwas, das seine Worte nicht durchdringen konnten, von dem sie abprallten wie Meeresbrandung an steilen, hoch-aufragenden Klippen. Das damit einhergehende Gefühl seltsamer, nicht willentlich geleiteter Verweigerung ließ ein Alarmglöckchen in ihr schrillen - - und ihre Augenlider aufspringen!
Es war nicht Brian Secada, der neben ihr saß und auf sie herabstarrte. Nicht der Brian Secada jedenfalls, den sie kannte!
Sein Gesicht war das eines Besessenen, sein stierer und funkelnder Blick der eines Fanatikers. Etwas in seinem Atem weckte Übelkeit und Schmerz in Lilith. Und der aufgeklappten Ledertasche an seiner Seite entströmten Dinge, die wie Gluthitze über ihre Haut strichen. Allein das seltsame, unsichtbare Etwas, das noch immer wie eine zweite Haut darüber lag, schien sie davor zu schützen. Andernfalls wäre sie vielleicht - verbrannt?
Vom Staub bist du genommen, zu Staub sollst zu werden ...
Der eigenartige Gedanke verflog. Weil »Secada« zu ihr sprach.
»Wer bist du, Lilith Eden?«
Wieder dieser Name - Eden -, den sie nicht einordnen konnte, der aber auf unterschwellige Art wichtig - und richtig - zu sein schien.
»Was bist du, Lilith Eden?«
Sie wollte es ihm nicht sagen, konnte es nicht.
Und doch mußte sie es tun. Weil seine »Argumente« sehr überzeugend waren!
* Die Berührung hätte überhaupt nicht weh tun dürfen. Nach menschlichem Ermessen. Doch Lilith glaubte dem Schmerz kaum gewachsen zu sein!
Dabei saß die Spitze des Holzpfahls, den »Secada« in der Faust hielt, nur auf ihrer Kleidung auf, eine Fingerbreite unterhalb ihrer linken Brust. Mit der anderen Hand hielt der Mann einen mächtigen Hammer umklammert, zum Schlag erhoben.
Und jetzt endlich erkannte Lilith auch, woran sein stinkender Atem sie erinnerte.
An Knoblauch!
Sie würgte, kämpfte gegen den quälenden Brechreiz an - und schaffte es nicht. Ein übelriechender Schwall spritzte förmlich aus ihrem Mund hervor, traf »Secada«, doch er schien es nicht einmal wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Statt dessen rief er mit Stentorstimme: »Sprich endlich, Lilith Eden! Verrate mir dein Geheimnis!«
Sie wollte es tun, vielleicht war die winzige Bewegung seiner Faust, in der er den Hammer hielt, der Grund dafür; aber sie tat es nicht. Sie zögerte, stockte. Vergaß die Worte, die ihr selbst dann noch fremd gewesen waren, als sie ihr schon auf der Zunge gelegen hatten - - denn etwas veränderte sich. Wurde vertraut. Und zutiefst erschreckend!
Todesangst schürend ...
Lilith sah sich mit einemmal nicht mehr in ihrem Zimmer. Kahle Wände ragten rings um sie auf, aus rauhem Bruchstein gemauert. Feuchte Kälte nistete in dem Raum, legte sich klamm auf sie, kühlte den Schweiß auf ihrer Haut.
Und auch »Secada« veränderte sich. Vollkommen. Er alterte binnen eines Lidschlages, wurde zu einem weißhaarigen alten Mann in dunkler Soutane. Ein - Priester?
Irgend etwas war falsch an dem Anblick, stellte Lilith fest. Sie wußte nicht, woran es lag, aber das Bild des Paters schien ihr auf unbeschreibliche Weise eine
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