Die zweite Wirklichkeit
als würden sich unzählige winzige, mit Widerhaken besetzte Zähne hineinbeißen .
. und es tat - weh!
Trotzdem war es ein seltsam vertrauter Schmerz, der seine einstige Stärke über die Jahre verloren hatte .
Dann verebbte er wieder, so blitzartig, wie er gekommen war. In dem Moment, da Lilith ihn als weiteren Teil des bösen Traumes entlarvte.
Das Gefühl, daß da etwas auf ihrer Haut lag, wich jedoch nicht. Li-lith beeilte sich nun doch mit der Morgentoilette, schon um sich durch die selbst auferlegte Hetze abzulenken.
In ihrem Zimmer suchte sie dann rasch (und wieder ohne in den Spiegel zu sehen!) Kleidung aus dem Schrank heraus, zog sich an und stürmte hinab ins Erdgeschoß, durch die kleine Halle und ins Speisezimmer, wo ihre Eltern mit dem Frühstück schon begonnen hatten.
»Sorry«, grinste ihr Vater kauend, »ich wäre sonst verhungert.«
»Schon gut«, lächelte sie, hauchte ihrer Mutter im Vorübereilen einen Kuß auf die Wange und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
»Du hast schlecht geträumt?« fragte ihre Mutter, Creanna Lancas-ter, über den Tisch hinweg.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte Lilith.
»Dein Vater hat .«
Lilith sah zu Sean hin. »Wie kommst du denn darauf? Ich habe doch gar nichts gesagt .«
Er lächelte.
»Es gibt nicht nur weibliche Intuition«, belehrte er sie.
Ihre Mutter erhob sich, nahm eine kleine Porzellankanne von einem Stövchen und trat neben ihre Tochter. »Hier, ich habe dir den Tee gemacht, den du so gerne magst. Danach wird es dir gleich besser gehen, mein Kind.«
Sie kippte die Kanne ein wenig. Der Tee floß in Liliths Tasse. Er schien ihr eigenartig dickflüssig.
Und er war rot.
Blutrot!
*
»Lilith!«
Der erschrockene Ruf ihres Vaters mischte sich noch in das Klirren und Scheppern, mit dem das Porzellan auf dem Boden zersprang. Mit einer Armbewegung, geboren aus Schrecken und Entsetzen, hatte Lilith ihr Gedeck vom Tisch gefegt und ihrer Mutter die Teekanne aus der Hand geschlagen.
Jetzt zerlief der Tee zu ihren Füßen in einer Pfütze - wässrig und farblos; nicht dickflüssig und schon gar nicht blutrot.
Ihre Mutter stand wie zur Salzsäule erstarrt inmitten der Scherben. Im Blick ihres Vaters wechselten Erschrecken und Zorn einander ab wie ein Blitzgewitter.
»Verdammt, was ist in dich gefahren?« stieß er hervor.
»Ich ...«, stammelte sie, viel tiefer auf ganz andere Art erschrocken als ihre Eltern, ». ich weiß nicht . der Tee .«
»Was ist damit?«
»Laß gut sein«, sagte Creanna ruhig. »Das Kind ist durcheinander. Es ist ja auch nicht so schlimm.« Sie wies auf die Bescherung zu ihren Füßen, und sie tat es sogar mit einem kleinen Lächeln, das jedoch nicht über ihre Sorge hinwegzutäuschen vermochte.
»Ich räume das rasch weg«, sagte Lilith leise und stand auf. »Tut mir leid, Mutter, wirklich.«
»Schon gut, mein Kind.«
In der Küche blieb Lilith für ein paar Sekunden stehen, versuchte tief und ruhig zu atmen und vor allem Ordnung in das Chaos hinter ihrer Stirn zu bringen.
Was war nur mit ihr los? Wie konnte ein simpler Traum - und mochte er auch noch so alptraumhaft gewesen sein - ihr gesamtes Denken und Empfinden, ihr ganzes Tun, ja, ihr Leben dermaßen durcheinanderbringen?
Er konnte es nicht.
Wenn sie es nicht zuließ!
Und sie war entschlossen, es nicht zuzulassen. Jeden Gedanken, der der Normalität zuwiderlief, der nie Geschehenes zu Tatsächlichem machen wollte, würde sie konsequent kappen, einfach nicht zu Ende denken.
»So einfach ist das«, dachte sie laut, während sie aus einem Wandschrank einen Putzlappen sowie Besen und Kehrichtschaufel nahm.
Damit wollte sie zurück ins Speisezimmer gehen, doch sie verhielt hinter der Ecke - und lauschte.
»Ich mache mir Sorgen, Creanna«, hörte sie die Stimme ihres Vaters.
»Ja, ich auch«, antwortete ihre Mutter.
»Vielleicht ist sie krank - oder sie brütet etwas aus?« meinte Sean Lancaster.
»Das glaube ich nicht«, sagte Creanna langsam. »Vielmehr scheint mir, daß - psychisch etwas nicht mit ihr stimmt .«
»Ja, könnte sein«, erwiderte ihr Vater. »Was hältst du davon, wenn ich Brian zum Abendessen einlade? Möglicherweise erkennt er die Ursache für Liliths merkwürdiges Verhalten eher als wir?«
»Brian Secada?« fragte Creanna. Lilith konnte das unwirsche Stirnrunzeln ihrer Mutter fast hören. »Er ist Parapsychologe«, fuhr sie dann fort. »Wie sollte er ... ?«
»Er dürfte sich auch auf >normale< Psychologie verstehen«, meinte Sean
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