Die Zwischenwelt (German Edition)
hoffen. „Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?“
„Nein.“
„Wann ist er gestorben? Ich meine: Um welche Uhrzeit?“
„Um drei Uhr nachts.“
„Seltsam … ich wache meistens um fünf auf, um kurz auf die Toilette zu gehen, aber in dieser speziellen Nacht war ich selbst erstaunt, als ich die Zahl 3:05 auf dem Küchenherd gesehen habe.“
Gegen Morgen schlief Fiona endlich richtig ein. Und dann erlebte sie den wahnsinnigsten Traum, den sie je geträumt hatte: Die Landschaft und die Farben, die sie im Traum sah, waren spektakulär. Die Emotionen von Ruhe, Glück und Zufriedenheit, die sie empfand, als sie alleine barfuß auf diesem wunderbaren langen Strand entlangging, fühlten sich wirklich real an. Sie befand sich im Traum auf einer langgestreckten Insel, die nur aus knallgelbem Sand bestand – keine Bäume, keine Leute, nur Weite. Wo sie hinschaute, sah sie nur Sand oder Meer. Der Himmel war schwarz, als ob sie sich auf einem Planeten ohne Atmosphäre im All befinden würde, und trotzdem war es hell wie bei Tageslicht. Das Meer war türkisblau und glasklar und in den schäumenden Wellen trieben rot und blau leuchtende Wolken, die aus biolumineszierenden Organismen zu bestehen schienen. Eine ältere Dame in einer weißen Tunika und mit einem großen hellblauen Hut erschien am Horizont und näherte sich ganz langsam; ein beigefarbener Hund in mittlerer Größe begleitete sie. „Driiiiiiiing!“ – Plötzlich erfüllte ein unangenehmes lautes Geräusch die Stille: „Driiiiiiiing!“ Fiona wachte auf – der Wecker hatte geläutet.
Lilien
I ch arbeitete als Floristin. Die Lehre hatte ich in einem alternativen Geschäft absolviert, das sich in der Altstadt gerade neben der Bar „Zum Bogengang“ befand, wo ich Sara zum ersten Mal getroffen hatte. Alternativ an dem Geschäft war, dass es sich um eine Schneiderei für Haare und Blumen handelte, also einen Coiffeur-Salon für Damen und gleichzeitig einen Blumenladen: Die Haare der Kundinnen wurden inmitten herrlich duftender Rosen und von der Decke hängender Papier-Schmetterlinge geschnitten. Ich war dort zuständig für das Komponieren von Blumensträußen, was mir enorme Freude bereitete. Es war mir erlaubt, meine Fantasie vollkommen frei auszuleben, so dass ich auch Materialien wie Holz, Eisen und Stein für meine Kompositionen verwendete.
Ein paar Jahre nach Saras Verschwinden war ich von zu Hause ausgezogen und wohnte nun in einem Häuslein an der Stadtgrenze mit Christoph, meinem Freund, dem ich auf der Suche nach Sara im Kastanienwald begegnet war. Wir hielten einige Tiere im Garten: Hühner, eine zugelaufene graue Katze und Fische.
Auf dem täglichen Rückweg von der Arbeit nach Hause passierte ich jeweils eine wunderbare Allee mit sehr hohen alten Platanen. Bei Sonnenuntergang war der Himmel Richtung Stadt dunkelblau, dort konnte man schon die ersten Sterne sehen. Richtung Haus hingegen schmückten violette, ins Rot und Gelb hinübergehende Töne den Himmel; die Bäume der Allee und die Berge waren dann nur noch schwarze Silhouetten vor dem purpurnen Hintergrund. An dieser Straße befand sich der alte Friedhof, der von einer noch älteren, fast zwei Meter hohen Mauer umzäunt war. Lief man an der Mauer entlang, ragten an einer Stelle zwei schwarze gestreckte Arme in die Höhe, als ob sie um Verzeihung bitten wollten. Es waren die metallenen Arme einer Grabstatue, die über hundert Jahre alt war.
Das eiserne Tor des Friedhofs war immer offen. Oft, wenn ich vorbeilief, hatte ich das Gefühl, eingeladen zu sein. Ich konnte dann nicht widerstehen und wanderte hinein, um mir die Gräber anzuschauen. Manche von ihnen waren uralt und von Efeu und wilden Kräutern überwuchert, darunter sah man nur noch dunkles sandiges Gestein. Die meisten Inschriften waren nicht mehr lesbar, da Wind und Regen den bröckelnden Stein ausgewaschen hatten. Ich fragte mich manchmal, ob es überhaupt noch Verwandte von diesen Menschen gab.
Dort, wo kleine und sicher sehr teure Tempel aus Marmor für die Verstorbenen standen, spürte man das Leid der Übriggebliebenen. Bei manchen Gräbern waren die Blumen immer frisch und die Pflanzen gepflegt, obwohl die gestorbenen Personen schon seit langem tot waren – anscheinend dachte aber noch immer jemand täglich an sie. Auf dem Friedhof fand ich oft Ruhe und Stille nach der Arbeit. Dort hatte ich Zeit, über das Leben nachzudenken, über das Leben und die Vergänglichkeit – und über Sara.
Es war an einem heißen
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