Die Zwischenwelt (German Edition)
eine Ewigkeit zu vergehen und dann endlich kam das Licht. Ernst fühlte sich immer leichter, als ob er schweben würde, aber irgendetwas war nicht in Ordnung. Er bewegte sich nicht in Richtung Licht, sondern schien zwei Meter oberhalb seines Körpers zu verharren.
Plötzlich kamen tausend Bilder vor ihm auf – Filmausschnitte, ganz viele gleichzeitig, und doch war es ihm möglich, sie alle zu verarbeiten. Er sah Sibylla, sie war bei sich zu Hause und schlief. Fiona sah er auch, sie schlief ebenfalls. Gleichzeitig sah er Fiona, die weinte, weil sie seinen bösartigen Brief erhalten hatte. Er sah Fiona schlaflos aus dem Fenster schauen. Er konnte auch ihre Gedanken sehen und fühlen – sie war verzweifelt, weil die Beziehung zu ihrem Vater in die Brüche gegangen war.
„Ich wusste gar nicht, dass sie so sehr darunter litt“, dachte er.
Gleichzeitig sah er Sibylla bitterlich weinen und Fionas verzweifelten Gesichtsausdruck, als Markus ihr am Telefon mitteilte, dass ihr Vater gestorben sei. Er sah Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles gleichzeitig. Er sah sich selbst als jungen Mann, wie er gelitten hatte, als seine Mutter den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Er sah Fiona am Küchenherd vorbeigehen – die Uhr am Herd zeigte 3:05.
Die Auswirkungen seines Verhaltens auf seine Mitmenschen und den riesigen Schaden, den er angerichtet hatte, wurden ihm jetzt bewusst. Er konnte fühlen, wie seine Bekannten sich in der Vergangenheit gefühlt hatten oder sich in der Zukunft fühlen würden. Die Dosis Gift in seinem Körper war sehr hoch und er spürte, dass es kein Zurück mehr gab – es war zu spät. Es war zu spät, irgendetwas wiedergutzumachen, denn sein Leben war zu Ende. Auf einmal sog ihn etwas hinauf, weg von dem Licht, aus der Küche hinaus und in den dunklen stürmischen Winterhimmel.
Die Frösche auf dem Kilimandscharo
S eit Saras Verschwinden waren inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen. Die Trauer überwältigte mich seltener als noch einige Jahre zuvor, aber wenn sie kam, fühlte ich mich wie damals, als sie verschwunden war – vor allem in der Nacht. Das Unterbewusstsein und die Seele kennen eben keine Zeit. Was mich dabei am meisten störte, war, dass die Erinnerungen sich langsam verflüchtigten. Ich wusste, dass sie meine beste Freundin war und das Gefühl, dass wir es gut miteinander gehabt hatten, blieb fest verankert. Aber die Details unserer Freundschaft gerieten mehr und mehr in Vergessenheit; ich vergaß immer mehr, was wir gemeinsam unternommen hatten.
Manchmal sah ich Personen, die ihr von hinten glichen und ähnlich wie sie wackelten, wenn sie mit dem Fahrrad fuhren. Dann schreckte ich für einen Moment auf, um anschließend enttäuscht festzustellen, dass sie es nicht war und ich weiterhin in der anderen Welt lebte.
Ich war noch immer mit Christoph zusammen. Die Begegnung mit ihm hatte ich Sara zu verdanken, denn damals war ich ja auf der Suche nach ihr in den Bergen gewesen. Inzwischen hatte er sich zu einem regelrechten Wander- und Berge-Fanatiker entwickelt, wohingegen ich eher der Baden-in-den-Tropen-Typ war. Nach langem Hinauszögern und einigen Urlauben in warmen Ferienorten musste ich aber nachgeben und der von ihm vorgeschlagenen Kilimandscharo-Besteigung zusagen. Ich ahnte nicht, dass ich dort wichtige Informationen über den Aufenthalt von Sara erhalten würde.
Christoph und ich flogen also nach Kenia, in die Super-Trekking-„Ferien“. Wir kamen frühmorgens an – sehr früh: Um vier Uhr früh standen wir nach nur zwei Stunden Schlaf am Flughafen von Mombasa. Ein kleines Flugzeug sollte uns anschließend von dort aus nach Arusha in Tansania bringen. Dieses „anschließend“ hatte im Reisebüro noch „sofort“ geheißen, in Mombasa hingegen hieß es „irgendwann“ – den Flug gab es nicht, wir hatten Tickets für einen nicht existierenden Flug. Nach zwölf Stunden Wartezeit mit einer kleinen Unterbrechung für eine nicht gewollte Zwangs-Shopping-Tour kam am Abend endlich die Erlösung: Ein Flieger flog nach Arusha. Todmüde kamen wir abends dort an, wo wir schon lange hätten sein müssen. Im Reisebüro hatte es ja geheißen, wir kämen mittags an, so dass wir dann noch Zeit gehabt hätten, uns zu erholen, bevor es am Tag danach zu Fuß auf den Kilimandscharo gehen würde. Aber nicht das Ziel ist das Ziel, sondern der Weg, oder?
Der Kilimandscharo ist mit seinen 5.895 Metern das höchste Bergmassiv Afrikas. Dort wollten wir rauf, oder genauer gesagt
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