Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Glückliche sein würde.
Sie brachen aus dem Maisfeld hervor in offenes Gelände. Das Zeltdach war zerstört, das Sonnensegel fortgerissen, alles lag verstreut. Überall waren Tote, aber er sah keine Kinder. Die Kleinen waren verschwunden. Kommt zu mir, meine schönen Kinder. Kommt zu mir in der Dunkelheit. Und als die Tür zum Turm hinter ihm zufiel und er zu Boden kippte und endlich in einer barmherzigen Bewusstlosigkeit versank, war sein letzter Gedanke:
Warum musste es Tifty sein?
IV
Die Höhle
Herbst 97n. V.
Kein Licht; nur sichtbar finstre Nacht Enthüllt ihm hier die Gruppen tiefen Weh’s
Milton, Das verlorene Paradies
24
Er war endlich zu Amy gekommen. In ihren Träumen war er zu ihr gekommen.
Die Träume spielten manchmal hier, manchmal dort. Sie waren Geschichten von Dingen, die passiert waren. Ereignisse und Gefühle aus der Vergangenheit, die sie wieder und wieder durchlebte, ein Gewirr, ein Flickenteppich aus Bildern, die sich überlappten und in dieser neuen Anordnung ganz verändert erschienen. Sie waren ihr Leben; ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart mischten sich darin, und sie waren derart intensiv, dass sie beim Aufwachen verblüfft entdeckte, in einer simplen Gegenwart mit festen Gegenständen und einer geordneten Zeit zu leben. Es war, als hätten die Welt des Wachens und die Welt des Schlafens ihre Position gewechselt und als besitze Letztere eine übermächtige Lebendigkeit, die auch dann nicht nachließ, wenn sie sich wieder an ihr Tagewerk machte. Vielleicht goss sie gerade Wasser aus einer Kanne, oder sie saß mit den Kindern im Kreis und las ihnen vor, oder sie fegte das Laub im Hof zusammen, und ohne Vorwarnungen überfluteten Empfindungen ihren Geist, als sei sie unter die Oberfläche der sichtbaren Welt in die Strömungen eines unterirdischen Flusses gesunken.
Ein Karussell mit kreisenden Lichtern und Musik. Der Geschmack von kalter Milch und staubigem Puderzucker auf ihren Lippen. Ein Zimmer mit blauem Licht, ihr Kopf, der im Fieber schwamm. Der Klang einer Stimme– Wolgasts Stimme–, die sie behutsam aus der Dunkelheit hinausführte.
Komm zurück zu mir, Amy, komm zurück.
Am mächtigsten von allen war der Traum von dem Zimmer– schmutzig und ungelüftet, Kleidung überall verstreut, alte Verpackungen von Fertiggerichten auf jeder Fläche, ein Fernseher, der sinnlos grausam in der Ecke plärrte, und die Frau, die offenbar ihre Mutter war– Amy überkam hoffnungslose Sehnsucht, als sie das begriff. Panisch lief die Frau in diesem engen Raum hin und her, hob Sachen vom Boden auf und warf sie in Säcke. Amy, Schatz, wach auf. Amy, wir müssen los. Sie gingen fort, ihre Mutter ging fort, die Welt war entzweigespalten worden, Amy war auf der einen Seite der Kluft, ihre Mutter auf der anderen, und der Augenblick des Abschieds zog sich unnatürlich in die Länge, als sehe sie ihre Mutter vom Heck eines Bootes aus, das sich vom Kai entfernte. Sie wusste, dass es hier war, in diesem Zimmer, wo ihr eigentliches Leben begann. Dass sie so etwas wie eine Geburt miterlebte.
Aber es waren nicht nur sie beide. Wolgast war auch da. Das ergab keinen Sinn. Wolgast war erst später in ihr Leben getreten. Anfangs war es nicht so, als stünde er wirklich neben ihr; sie nahm ihn anders wahr– als leuchtenden Dunst von Emotionen, der über der Szene schwebte. Je mehr sie spürte, dass ihre Mutter sich von ihr entfernte und einer persönlichen Not folgte, die Amy weder verstand noch teilte– etwas Schreckliches war passiert–, desto intensiver fühlte sie ihn. Eine tiefe Ruhe durchdrang sie; unbeteiligt beobachtete sie alles, denn sie wusste, dass dies alles tatsächlich vor sehr langer Zeit geschehen war. So erlebte sie die Szene zum ersten Mal und erinnerte sich zugleich an sie– war handelnde Person und Beobachterin. Wolgast benahm sich seltsam. Jetzt saß er auf ihrer Bettkante, und ihre Mutter war nirgends zu sehen. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte und keine Schuhe, und er starrte versunken auf seine Hände, die er vor sich hielt, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Hier ist die Kirche, intonierte er und verschränkte alle bis auf die beiden Zeigefinger, und hier ist der Kirchturm. Öffne die Tür – seine Daumen teilten sich und eröffneten den Blick auf seine wackelnden Finger– und sieh all die Leute. Amy, hallo.
– Hallo, sagte sie.
Es tut mir leid, dass ich weg war. Du hast mir gefehlt.
– Du hast mir auch gefehlt.
Der Raum um sie herum hatte sich verändert,
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