Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Gewehr auf sie zielte. Erschieß mich, dachte sie. Was immer hier passiert, ich will es nicht mit ansehen müssen. Ein Gebet aus Kindertagen fand den Weg auf ihre Lippen, und sie schloss die Augen und murmelte es in den Staub.
Ein Schuss. Hinter ihr fiel etwas mit animalischem Grunzen zu Boden. Bevor ihr Verstand alles verarbeiten konnte, hatte Cruk sie auf die Beine gerissen. Seine Lippen bewegten sich und formten Worte, die sie nicht verstand. Sein Gewehr war weg; er hatte nur noch die Pistole, Abigail. Wieso nannte ein Mann seine Pistole Abigail? Wieso gab er ihr überhaupt einen Namen? Irgendetwas musste mit ihrem Kopf passiert sein, begriff sie, denn sie machte sich hier Gedanken um Cruks Pistole, während ringsherum alle starben. Anderes kam ihr in den Sinn, seltsame, schreckliche Dinge. Wie es sich anfühlen würde, entzweigerissen zu werden wie Ali Dodd. Sie dachte an ihre Töchter auf dem Feld und was jetzt mit ihnen passierte. Wie furchtbar, dachte Dee, auch nur eine Sekunde länger zu leben als die eigenen Kinder. In einer Welt voll schrecklicher Dinge war das sicher das schrecklichste. Cruk schleifte sie auf die Tür zu. Er glaubte, sie wollte, dass er es tat, aber sie wollte es nicht, überhaupt nicht– im Gegenteil, sie konnte nicht schnell genug sterben–, und mit einem kraftvollen Ruck riss Dee sich von ihm los, rannte auf das Feld hinaus und rief nach ihren Kindern.
Vorhees hörte seine Töchter auf dem Feld lachen. Er wusste, sie waren zu jung, um Angst zu haben. Sie hatten sich hinausgeschlichen, um genau das zu tun, was man ihnen verboten hatte, und für sie war das alles ein Spiel, auch die komische Sache mit dem Licht. Vorhees rannte durch die Pflanzreihen, rief ihre Namen, keuchend vor Panik, und versuchte, sie durch den Klang ihrer Stimmen zu orten. Aber die Stimmen waren hinter ihm, vor ihm, rechts und links. Sie schienen überall zu sein, sogar in seinem Kopf.
» Nit! Siri! Wo seid ihr?«
Dann war da eine Frau. Sie stand mitten in der Reihe, in einen dunklen Mantel gehüllt wie eine Frau im Märchen. Sie sah aus wie eine Waldbewohnerin. Ihr Kopf war durch eine Kapuze verdeckt, ihre Augen durch eine dunkle Brille, die ihre obere Gesichtshälfte verbarg. Vorhees war so verwirrt, dass er einen Moment lang glaubte, er fantasiere.
» Sind sie deine Töchter?«
Wer war sie, diese Frau im Mais? » Wo sind sie?«, keuchte er. » Weißt du, wo sie sind?«
Mit träger Gebärde nahm sie die Sonnenbrille ab und enthüllte ein Gesicht von sinnlicher Glätte und jugendlicher Schönheit. Ihre Augen glänzten wie Diamanten. Übelkeit stieg plötzlich in ihm auf.
» Du bist müde«, sagte sie.
Und plötzlich war er es auch. Noch nie in seinem ganzen Leben war Curtis Vorhees so müde gewesen. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Amboss und wog tausend Pfund. Es erforderte seine ganze Willenskraft, stehen zu bleiben.
» Ich habe eine Tochter. Eine so schöne Tochter.«
Hinter sich hörte er die letzten Schüsse, in zielloser Panik abgefeuert. Feld und Himmel waren in unirdische Dunkelheit getaucht. Er verspürte den Drang zu weinen, aber selbst das schien über seine Kräfte zu gehen. Er war auf die Knie gesunken, und gleich würde er vollends zusammenbrechen.
» Bitte«, würgte er hervor.
» Kommt zu mir, meine schönen Kinder. Kommt zu mir in der Dunkelheit.«
Eine titanische Kraft riss ihn auf die Beine: Tifty. Sein Gesicht war ganz nah. Vorhees erkannte ihn kaum. Tifty zerrte an seinem Arm.
» Vor, komm!«
» Die Frau…« Vorhees’ Zunge lag schwer in seinem Mund.
» Wovon redest du?«
» Sie war…«
» Hier ist niemand!«, schrie Tifty. » Wir müssen zum Turm!«
Vorhees wollte nichts davon wissen. Mit letzter Kraft riss er sich los.
» Ich muss sie finden!«
Tiftys Gewehrkolben beendete alles. Ein einzelner, harter Schlag an den Schädel, geschickt gezielt– und Vorhees sah Sterne. Die Welt stand kopf, als Tifty ihm den Arm um die Taille schlang, ihn über seine Schulter warf und loslief. Die breiten Blätter flogen vorbei und klatschten ihm ins Gesicht. » Nit! Siri!«, rief Vorhees. » Kommt zurück!« Aber er hatte nicht die Kraft, sich zu sträuben. Seine Familie war tot, das wusste er. Tifty hätte ihn nicht gesucht, wenn sie noch lebten. Wieder fielen Schüsse, und ringsumher schrien die Sterbenden. Die Hardboxen, sagte eine Stimme. Sie sind aus den Hardboxen gekommen. Wer würde diesen Tag überleben? Und Vorhees wusste zu seiner endlosen Trauer, dass wieder einmal er der
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