Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
zu früh zur Welt gekommen war, nicht überlebt hatte. Es war ein Mädchen, hatte die Frau gesagt. Es tut mir leid. Dann hatte sie Sara den Umschlag in die Hand geschoben und war verschwunden. Im Dunst von Schmerz und Trauer hatte Sara sich danach gesehnt, ihre Tochter in den Armen zu halten, doch dazu war es nicht gekommen. Man hatte das Kind weggebracht. Die Frau hatte sie nie wieder gesehen.
Sorgsam faltete sie das spröde Papier mit spitzen Fingern auseinander. Darin lag eine Haarlocke– eine Locke von einem Baby. Der Raum lag im Dunkeln, aber sie hatte die blassgoldene Farbe lebhaft vor Augen. Sie hob sie ans Gesicht, atmete tief ein, versuchte, ihren Duft einzufangen. Nie wieder würde sie eins bekommen. Kate war ihr einziges. So hatte sie das kleine Mädchen getauft: Kate. Wie sehr wünschte sie sich, sie hätte es Hollis gesagt. Sie hatte sich diese Neuigkeit aufheben wollen, hatte auf den perfekten Augenblick gewartet, um ihm das Geschenk ihrer Vereinigung zu machen. Wie töricht sie gewesen war. Ich weiß, dachte sie, du hast es jetzt besser, mein Liebling. Wo immer du jetzt bist, ich hoffe, es ist ein Ort des Lichts, des Himmels und der Liebe. Wenn ich dich nur einmal im Arm hätte halten können, nur ein einziges Mal, um dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.
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Die Sache mit diesem Bello: Das ging jetzt einfach schon zu lange.
Nicht, dass es nicht schon früher Aufstände gegeben hätte. Im Jahr 31, nicht wahr? Und dann wieder 68? Gar nicht zu reden von den kleinen Buschfeuern der Aufsässigkeit, die im Laufe der Jahre gelöscht worden waren. Und traf es nicht auch zu, dass stets ein einzelnes Individuum der Auslöser für alles war, ein einsamer Renegat, der einfach nicht kapieren wollte? Und dass die Flammen des Widerstands, des lebenswichtigen Sauerstoffs beraubt, von allein erloschen, wenn man sich um diesen Mann (es war immer ein Mann) gekümmert hatte?
Aber dieser Bello: Er war aus einem anderen Holz geschnitzt als die anderen. Direktor Horace Guilder stand am Fenster unter der Kuppel, ließ den Blick über den schmutzigen Fleck des Flachlands und die farblosen Winterfelder jenseits davon wandern und machte eine Bestandsaufnahme. Zunächst einmal waren die Methoden des Mannes andere, nicht nur in der Vielfältigkeit, sondern auch, was ihre Gnadenlosigkeit anging. Da sprengten sich Leute in die Luft! Schnallten sich Dynamitstangen oder Rohrbomben, vollgestopft mit Glasscherben und zerbrochenen Schrauben, um die Brust und brachten tatsächlich die Willenskraft auf, sich selbst und alle um sie herum in einem blutigen Dunst zu verspritzen! Das war mehr als verrückt; es war eine ausgewachsene Psychose, was nur bedeuten konnte, dass dieser Bello, wer immer er war, die Psyche seiner Anhänger noch fester im Griff hatte als jeder vor ihm. Die Flachländer lebten in Sicherheit, sie hatten Essen, das ihnen die Bäuche wärmte, und sie schliefen nachts in ihren Betten, ohne Angst vor den Virals zu haben. Mit anderen Worten, sie durften ihr Leben leben– und das war der Dank, den er dafür bekam? Sahen sie denn nicht, dass er alles, was er getan hatte, für sie getan hatte? Dass er der Menschheit eine Heimat errichtet hatte, damit sie gegen den herrschenden Wind der Geschichte weiter existieren konnte?
Schön, manches war… ein bisschen unfair. Es gab eine ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen, eine Abgrenzung zwischen Management und Arbeit, zwischen Besitzenden und Habenichtsen, zwischen uns und ihnen. Man verließ sich darauf, dass sich jeder im Zweifelsfall der Nächste war, und setzte auf die altbewährten Werkzeuge, die Massen fügsam zu machen– eiskalte Duschen, das Anstehen in endlosen Schlangen, die exzessive Verwendung bestimmter Schlagwörter, Lautsprecher, aus denen ein beständiger Strom des Schwachsinns hervorplärrte. » Ein Volk! Ein Führer! Ein Homeland!« Bei diesen Worten zog er schmerzlich berührt den Kopf zwischen die Schultern, aber ein gewisses Maß an theatralisch inszenierter Demagogie gehörte einfach dazu. Nichts wirklich Neues und unter diesen Bedingungen vollkommen gerechtfertigt. Manchmal jedoch, wie jetzt an diesem eiskalten Morgen in Iowa, als die erste arktische Front dieser Jahreszeit heranraste wie ein führerloser Güterzug voll arschmäßiger Kälte, hatte Guilder große Mühe, sich seinen Enthusiasmus zu bewahren.
Seine weitläufige Bürosuite, die auch als sein Wohnquartier fungierte, hatte zu unterschiedlichen Zeiten in ihrer zweihundertjährigen
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