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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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betroffenen Person noch gut, und im nächsten Augenblick bekam sie fast keine Luft mehr.
    » Wir müssen dich hier rausbringen.«
    Sie zog die Frau auf die Beine, als die Trillerpfeife ertönte. Sara schlang Jackie einen Arm um die Taille und bugsierte sie zum Ausgang. Sie wollte hinauskommen, bevor jemand sie bemerkte; wie es dann weitergehen sollte, wusste sie nicht. Vale war der leitende Kol. Nicht der Beste, aber auch nicht der Schlimmste. Mehr als einmal hatte Sara ihn dabei ertappt, dass er sie beobachtete, als habe er etwas mit ihr im Sinn, etwas Persönliches, doch getan hatte er noch nichts. Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick. Bei dem Gedanken daran stieg Übelkeit in ihr hoch, aber sie wusste, sie wäre dazu imstande. Sie würde tun, was nötig wäre.
    Kurz vor dem Ausgang trat ihnen jemand in den Weg. » Was glaubt ihr, wo ihr hingeht?«
    Nicht Vale. Sod. Von hinten beleuchtet, stand er in der offenen Tür und ragte vor ihnen auf. Saras Magen krampfte sich zusammen.
    » Sie braucht ein bisschen frische Luft. Der Staub…«
    » Ist das wahr, alte Frau? Stört dich der Staub?« Er klopfte der Frau mit dem Griff seines Schlagstocks an die Brust und löste damit einen würgenden Hustenanfall aus. » Geh zurück an deine Arbeit.«
    » Ist schon gut, Sara«, keuchte Jackie und befreite sich von Saras Arm. » Ich komme zurecht.«
    » Jackie…«
    » Ehrlich.« Sie sah Sara an, und ihr Blick sagte: Nicht. » Sie mischt sich immer nur ein. Glaubt, sie weiß, was das Beste für mich ist.«
    Sods Blick huschte an Saras Körper herunter. » Ja, das hab ich schon von dir gehört. Hältst dich für einen Doktor oder so was, nicht wahr?«
    » Das habe ich nie gesagt.«
    » Natürlich nicht.« Mit seiner freien Hand griff Sod sich in den Schritt und wiegte das Becken vor und zurück. » Hey, Doktor, ich hab hier so Schmerzen. Können Sie sich das nicht mal genauer ansehen?«
    Es war, als käme die Zeit ins Stocken, als hielte sie für einen Augenblick an. Sara dachte an Eustace auf dem Lastwagen, an das Blut in seinem Gesicht, seine zerschmetterten Hände und Zähne. An sein gebrochenes Triumphlächeln. So stand sie vor Sod und versuchte, sich zu zwingen, die Worte auszusprechen, den Fluch, der den Zorn des Mannes entfesseln würde, sodass er sich auf sie stürzte. Es war alles so einfach, so klar. Die Szene entfaltete sich vor ihrem geistigen Auge. Nur zwei Worte, die auflodernde Wut in Sods Augen und dann der harte Schlagstock. Das waren die Bedingungen ihres Lebens: tausend Demütigungen, die sich tagtäglich wiederholten. Sie hatten ihr alles genommen. Das Schlimmste zu akzeptieren– nein, es zu begrüßen–, das war die einzige Form des Widerstands.
    » Sara, bitte.« Jackie starrte sie flehentlich an. Nicht so. Nicht für mich.
    Sara schluckte. Alle schauten sie an.
    » Okay«, sagte sie.
    Sie drehte sich um und ging davon. In der Fabrikhalle war es seltsam still geworden. Sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag.
    » Keine Sorge, Fisher«, rief Sod ihr nach und lachte anzüglich. » Ich weiß, wo ich dich finde. Es wird genauso gut wie beim letzten Mal, das verspreche ich dir.«
    Erst später, als sie in ihrer Koje lag, gestattete Sara sich, diese Ereignisse in ihrem ganzen Ausmaß zu bedenken. Etwas in ihr hatte sich verändert. Sie stand am Rand, eine Gestalt am Abgrund, die darauf wartete zu springen. Fünf lange Jahre: Ebenso gut hätten es tausend sein können. Die Vergangenheit verschwand in ihr, weggespült vom Strom der Zeit, von der bitteren Kälte in ihrem Herzen, der Gleichförmigkeit der Tage. Sie hatte sich zu lange in sich selbst versenkt. Der Winter kam. Das Licht des Winters.
    Irgendwie hatte sie Jackie durch den Tag gebracht. Jetzt schlief die alte Frau über ihr. Die Gurte ihrer Koje ächzten unter ihrem rastlosen Hin und Her. Jackies Tod, wenn es so weit wäre, würde schlimm werden: lange, qualvolle Stunden, ein Ersticken von innen, bevor sie endlich still würde. Würde Sara das gleiche Schicksal erleiden? Blindlings durch die Jahre stolpern, ein Wesen ohne Sinn und menschliche Bindung, eine hohle Hülse des Nichts?
    Sara hatte den Umschlag nicht wieder in sein Versteck unter der Matratze geschoben. Von plötzlicher Einsamkeit gepackt, zog sie ihn unter dem Lumpenbündel hervor, der ihr als Kopfkissen diente. Sie hatte ihn von der Assistentin der Hebamme auf der Wöchnerinnenstation bekommen– von derselben Frau, die ihr auch gesagt hatte, dass das Baby, das in einem Blutschwall

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