Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Geschichte als Büro des Territorialgouverneurs von Iowa und des Präsidenten des Staatlichen Historischen Museums sowie als Lager gedient. Ihr letzter Bewohner in der alten Welt war der Verwaltungsleiter der Midwest State University gewesen, ein Mann namens August Frye (so stand es auf seinem Briefpapier), der zweifellos viele glückliche Stunden an den großzügigen Fenstern gestanden und den herzerwärmenden Anblick fröhlicher, maisgemästeter Studenten aufgesogen hatte, die wie verrückt miteinander flirteten, während sie über den gepflegten Rasen von Iowa zur Vorlesung schlenderten. Bei seinem Einzug hatte Guilder überrascht festgestellt, dass Verwaltungsdirektor August Frye die Räumlichkeiten mit nautischen Elementen dekoriert hatte: Man sah Flaschenschiffe, Karten mit gezeichneten Schlangen, überladene Ölgemälde mit Leuchttürmen und Meereslandschaften, einen Anker. Eine erstaunlich unpassende Auswahl, wenn man bedachte, dass das Midwestern State College ( » Go, Bearcats!«) auf festem Boden im meeresfernsten Binnenland der Welt stand. Was hätte Guilder nach fast hundert Jahren nicht für einen winzig kleinen malerischen Ausblick gegeben.
Das war ein großes Problem bei der Unsterblichkeit, abgesehen von der eigentümlichen Ernährung: Alles wurde irgendwann langweilig.
In solchen Augenblicken heiterte ihn nur eines auf, nämlich die Bestandsaufnahme dessen, was er erreicht hatte. Das war nicht unbeträchtlich: Sie hatten buchstäblich aus dem Nichts eine Stadt erbaut. Welche Begeisterung er in den ersten Tagen empfunden hatte! Das unaufhörliche Klingen der Hämmer. Die Lastwagen, die von ihren Reisen quer durch den unbewohnten Kontinent zurückkehrten, randvoll mit den herrenlosen Schätzen der alten Welt. Die taktischen Entscheidungen, die täglich hundertfach getroffen werden mussten, die vibrierende Energie seines handverlesenen Stabes– Männer, die unter den Überlebenden wegen ihrer Fachkenntnisse ausgewählt worden waren. Er und sein Stab hatten aus den menschlichen Überresten der Katastrophe einen veritablen Brain Trust geschaffen. Chemiker. Ingenieure. Stadtplaner. Agrarwissenschaftler. Sogar ein Astronom war dabei (der sich als überraschend nützlich erwiesen hatte), und ein Kunsthistoriker hatte Guilder (der, um ehrlich zu sein, Monets Wasserlilien nicht von pokerspielenden Hunden unterscheiden konnte) bei der richtigen Konservierung und Ausstellung einer größeren Ladung erbeuteter Kunstwerke aus dem Art Institute of Chicago beraten: Jetzt zierten die Bilder die Wände des Dome und auch Guilders Büro. Wie viel Spaß das gemacht hatte! Zugegeben, wie sie sich dabei aufgeführt hatten, hatte an die Atmosphäre in einem Studentenwohnheim erinnert– natürlich abzüglich der sexuellen Faxen. (Diesen Teil des Gehirns trocknete das Virus aus wie einen Stockfisch; die meisten Mitarbeiter brachten es kaum noch über sich, eine Frau anzusehen, ohne das Gesicht zu verziehen.)
All die glücklichen Erinnerungen. Und jetzt: War da Bello. Jetzt: Waren da die Rohrbomben. Jetzt: Lag über allem ein blutiger Schleier.
Ein Klopfen an der Tür riss Guilder aus seinen Gedanken. Er seufzte tief. Wieder ein Tag, an dem Formulare auszufüllen, Pflichten zu verteilen, Erlasse von ganz oben zu verfassen waren. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, eine polierte Mahagonifläche aus dem 18. Jahrhundert mit den Ausmaßen einer Pingpong-Platte, wie es seiner Stellung als geliebter Direktor des Homelands zukam, und machte sich auf einen weiteren Vormittag mit einem unersättlichen Appetit auf seine Ansichten gefasst– ein Gedanke, der beinahe augenblicklich die ersten Regungen eines Appetits von eher physischer, drängender Natur freisetzte. Das Gurgeln einer ätzend sauren Leere stieg aus seinen Eingeweiden herauf. So bald schon? War der Monat bereits so weit fortgeschritten? Das Einzige, was noch schlimmer war als dieses Rülpsen, waren die Fürze, die nachher kamen– raumfüllende Ladungen von zwiebelartigen Gasen, an denen sogar der Furzende selbst keine Freude haben konnte.
» Herein.«
Als die Tür sich öffnete, zog Guilder seine Krawatte hoch und beeilte sich, einen beschäftigten Eindruck zu machen. Mit künstlicher Konzentration schob er ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her. Willkürlich wählte er ein Dokument aus; es erwies sich als Bericht über die Reparaturarbeiten an der Abwasseraufbereitungsanlage– ein Aufsatz, der buchstäblich von Scheiße handelte. Volle
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