Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Trance vergehen. Dieses Talent hatte sie im Laufe der Monate und dann der Jahre erworben; sie nutzte den hypnotischen Rhythmus der Arbeit, um ihren Kopf von allen Gedanken zu befreien. Nichts zu denken, das war das Ziel. Einen Zustand einzunehmen, in dem ihre Sinne nur die unmittelbarsten äußeren Eindrücke aufnahmen: das Kreisen der Mühlräder, den Gestank der fermentierenden Maiskörner, den Kloß der kalten Leere in ihrem Bauch, wo die kümmerliche Schale Wassergrütze, die hier als Frühstück bezeichnet wurde, längst verdaut war. In diesen zwölf Stunden war sie Flachländer Nr. 94801, nicht mehr und nicht weniger. Die wirkliche Sara, die dachte und fühlte und sich erinnerte– Sara Fisher, Erste Krankenschwester, Bürgerin der Kolonie, Tochter von Joe und Kate Fisher und Michaels Schwester, Geliebte des Hollis, Freundin für viele, Mutter für eins–, die war versteckt auf einem zusammengefalteten Zettel, der wie ein Talisman in ihrer Tasche versteckt war.
Sie tat ihr Bestes, um Jackie im Auge zu behalten. Die Frau machte ihr Sorgen. Ein Husten wie ihrer bedeutete nichts Gutes. Im Flachland hatte man eigentlich keine Freunde, jedenfalls nicht so, wie Sara Freundschaft erlebt hatte. Es gab Gesichter, die man kannte, und Leute, denen man mehr vertraute als anderen, aber weiter ging es nicht. Man sprach nicht über sich selbst, denn eigentlich war man niemand, und man redete nicht von seinen Hoffnungen, denn man hatte keine. Bei Jackie hatte sie jedoch ihre Deckung sinken lassen. Sie hatten einen Pakt geschlossen, ein unausgesprochenes Versprechen gegeben, aufeinander zu achten.
Am Mittag hatten sie fünfzehn Minuten Pause, gerade genug Zeit, um zur Latrine zu rennen– einer Holzplanke über einem Graben, die Löcher hatte, über denen man hockte– und noch eine Schale Grütze herunterzuschlingen. Es gab keinen Platz zum Sitzen; also aß man im Stehen oder auf dem Boden, und als Löffel benutzte man die Finger. Um Wasser zu bekommen, musste man sich wieder anstellen, und zum Trinken gab es nur eine einzige Kelle für alle Frauen. Die ganze Zeit wurden sie von den Kols beobachtet, die am Rande standen und ihre Stöcke im Kreis herumwirbelten. Ihre offizielle Bezeichnung war Human Resources Officers, aber im Flachland nannte sie niemand so. » Kol« war die Abkürzung für Kollaborateure. Fast alle waren Männer, es waren allerdings auch ein paar Frauen dabei, und die waren oft grausamer als alle anderen. Eine von ihnen nannten sie Whistler, die » Pfeiferin«, weil sie eine tiefe Scharte an der Oberlippe hatte, eine angeborene Missbildung, die ihrer Stimme einen unverwechselbaren, flötenartigen Klang gab. Diese Frau war dafür bekannt, dass sie ein ganz besonderes Vergnügen daran hatte, sich neue und subtile Methoden auszudenken, um ihnen das Leben schwer zu machen. Sie hatte die Angewohnheit, sich jemanden– meistens eine Frau– auszusuchen, als ginge es um ein Experiment. Whistler nahm dich aufs Korn, und ehe du dichs versahst, holte sie dich aus der Schlange vor der Latrine, wenn du gerade an der Reihe warst, nur um dich zu filzen, oder sie gab dir einen unmöglichen und völlig sinnlosen Auftrag, oder sie versetzte dich unmittelbar vor deiner Pause in ein anderes Team. Das alles konnte man nur zähneknirschend hinnehmen. Man ertrug das Elend einer brennenden Blase oder eines knurrenden Magens oder schmerzender Gliedmaßen, weil man wusste, dass Whistler ihre Aufmerksamkeit bald auf jemand anderen richten würde, und das machte alles nur schlimmer und schien der ganze Sinn der Übung zu sein. Denn unversehens wünschte man sich, das Leiden möge jemand anderen heimsuchen: So wurde man zur Komplizin, zu einem Teil des Systems, einem Rädchen im Getriebe der Folter, das niemals aufhörte, sich zu drehen.
In der Pause hielt Sara Ausschau nach Jackie, aber die Frau war nirgends zu sehen. Eilig lief sie an den Mahlstationen entlang und suchte ihre Freundin. Jeden Augenblick würde die Trillerpfeife des Vormanns schrillen und sie wieder an die Arbeit schicken. Sie war kurz davor aufzugeben, als sie um eine Ecke bog und Jackie auf dem Boden sitzen sah. Ihr Gesicht war nass von Schweiß, und sie drückte sich ihr zusammengeknülltes Tuch an den Mund.
» Entschuldige«, brachte sie hervor. » Ich konnte einfach nicht aufhören zu husten.«
Das Tuch war blutig. Sara wusste, was das war. Sie hatte es schon früher gesehen: die Folge einer jahrelangen Staubbelastung der Lunge. Gerade ging es einer
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