Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Verhandlung folgte: Sollte einer von ihnen sie wegbringen, oder sollten sie einen Fahrer anfordern?
» Scheiß drauf, ich fahre sie«, sagte Whistler. » Wie ich dich kenne, trödelst du nur den ganzen Tag herum.«
Die Fahrt zum Krankenhaus dauerte zehn Minuten, und Sara nutzte sie, um einen Plan zu schmieden. Sie hatte nur daran gedacht, ins Krankenhaus zu kommen und Jackie zu finden, bevor der Kastentransporter sie wegbrächte: Über den nächsten Schritt hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Jetzt hatte sie den Eindruck, dass sie nur zwei gute Karten in der Hand hatte. Erstens, sie war nicht wirklich krank: Wenn sie auf wunderbare Weise wieder gesund würde, würden sie eine hundertprozentig einsatzfähige Frau wohl kaum zum Fressplatz bringen. Zweitens, sie war Krankenschwester. Sara wusste noch nicht, wie sie diesen Umstand nutzen sollte– sie würde improvisieren müssen–, aber sie könnte ihre medizinischen Kenntnisse dazu verwenden, die verantwortliche Person davon zu überzeugen, dass Jackie nicht so krank war, wie es aussehen mochte.
Vielleicht wäre es auch ganz gleichgültig, was sie tat. Wenn sie einmal durch die Tür des Krankenhauses gegangen wäre, würde sie vielleicht nie wieder herauskommen. Wenn sie diese Aussicht genau betrachtete, war sie gar nicht so übel, und damit hatte sie ei ne dritte Trumpfkarte: Es war ihr egal, ob sie weiterlebte oder starb.
Whistler hielt vor dem Krankenhauseingang, kam nach hinten und ließ die Heckklappe herunter.
» Runter mit dir. Gehen wir.«
» Ich glaube nicht, dass ich gehen kann.«
» Na, du wirst es versuchen müssen, denn tragen werde ich dich nicht.«
Sara stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen und schärfte alle Konturen mit ihrer kalten Helligkeit. Das Krankenhaus war ein dreigeschossiger Ziegelbau, Teil einer Anhäufung von flachen Gebäuden am südlichen Rand des Flachlands. Zwanzig Meter weit entfernt stand eins der drei großen HR -Unterreviere. Der Eingang war von Betonbarrikaden flankiert, und ein Dutzend Kols hielten davor Wache.
» Führe ich hier vielleicht Selbstgespräche?«
Ja. Sara hörte kaum zu. Sie beobachtete den Wagen, ein kleines Personenfahrzeug, wie die Kols sie benutzten, um zwischen den Baracken hin und her zu fahren. Er kam in hohem Tempo auf sie zu und zog eine Staubfahne hinter sich her. Sara kletterte von der Ladefläche herunter. Im selben Moment spürte sie, dass jemand von hinten auf sie zustürzte. Das Auto raste mit unverminderter Geschwindigkeit heran. Es wirkte merkwürdig, nicht nur wegen des rasenden Tempos, in dem es näher kam. Die Fenster waren geschwärzt und verbargen den Fahrer, und etwas war mit weißer Farbe auf die Motorhaube gepinselt.
BELLO LEBT .
Als der Wagen geradewegs auf die Barrikaden zuhielt, riss sie jemand nach unten und drückte sie flach auf den Boden. Das Auto explodierte mit einem ohrenbetäubenden Krachen und einer superheißen Druckwelle, wie sie beides nie für möglich gehalten hätte. Die Luft wurde aus ihrer Lunge gesogen. Gegenstände fielen herab. Gegenstände segelten durch die Luft und schlugen wie Meteore um sie herum auf, lodernd und schwer. Metall kreischte, und Glas regnete klingend zu Boden. Die Welt bestand aus Lärm und Hitze und dem Gewicht eines Körpers auf ihr. Dann war es plötzlich still, warmer Atem wehte an ihr Ohr, und eine Stimme sagte:
» Komm jetzt mit. Tu genau, was ich sage.«
Sara war auf den Beinen. Eine Frau, die sie nicht kannte, packte sie bei der Hand und riss sie aus der Starre des Staunens. Anscheinend war sie taub, was die Szene um sie herum in eine milchige Unwirklichkeit tauchte. Das Unterrevier war ein rauchender Krater. Der Pick-up war nicht mehr neben ihr; er lag auf der Seite vor dem Krankenhauseingang– oder da, wo der Eingang gewesen war. Etwas Nasses klebte auf Saras Händen und ihrem Gesicht. Blut. Sie war damit bedeckt. Und mit irgendeinem klebrigen Zeug, das von einem Menschen oder Tier stammte. Außerdem war da noch feiner Juwelenstaub, der aus winzigen Glassplittern bestand, wie sie jetzt sah. Erstaunlich, dachte sie, wie überaus erstaunlich das alles war, vor allem das, was mit Whistler passiert war. Faszinierend, wie ein Körper aussah, wenn er nicht mehr in einem Stück vorhanden war, sondern in erkennbar menschlichen Einzelteilen auf einer großen Fläche verstreut lag. Wer hätte gedacht, dass einem Menschen, wenn er zerfetzt wurde, wie es hier offensichtlich passiert
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