Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
nicht gehorchen wollten, ganz wie ein Armvoll Herbstlaub, das sie in einen Sack stopfen wollte.) Es war nicht nett. Es war inakzeptabel. Hinterrücks über jemanden zu reden, solche bösartigen Andeutungen zu machen– das war jenseits der Grenzen des allgemeinen Anstands. Womit hatte sie eine solche Behandlung verdient? Sie blieb für sich, bat nie um etwas, war immer mäuschenstill; sie war ganz zufrieden damit, sich die Zeit in ihrem Zimmer zu vertreiben, mit ihren Fläschchen und Kämmen und Bürsten und der Frisierkommode, an der sie jetzt saß– anscheinend saß sie hier schon eine ganze Weile–, und sich das Haar zu bürsten.
Ihr Haar. Sie richtete den Blick auf das Gesicht im Spiegel, und das Wiedererkennen durchflutete sie wie eine warme Welle. Der Anblick überraschte sie anscheinend immer noch jedes Mal: die rosige, porenlose Haut, die taufeucht glitzernden Augen, die saftig gerundeten Wangen, die feinen Proportionen ihrer Züge. Sie sah… wunderbar aus! Und das Wunderbarste von allem war ihr Haar. Wie es glänzte, wie überreich es sich anfühlte, wie üppig in seiner melassegleichen Dichte. Nein, nicht Melasse: Schokolade. Wie eine ausgezeichnete, dunkle Schokolade aus einer wundervollen, besonderen Gegend der Welt. Aus der Schweiz vielleicht oder aus einem dieser anderen Länder. Schokolade wie die, die ihr Vater immer in seinem Schreibtisch verwahrt hatte; wenn sie brav gewesen war, sehr brav, oder manchmal auch ohne einen speziellen Grund, nur weil er sie liebte und es ihr zeigen wollte, rief er sie in das Heiligtum seines männlich duftenden Arbeitszimmers, wo er seine wichtigen Aufsätze schrieb und seine unergründlichen Bücher las und seinen allgemein geheimnisvollen Vatergeschäften nachging, und dann überreichte er ihr feierlich das Zeichen seiner Liebe. Aber nur eine Praline, sagte er dann, und das Singuläre verstärkte die Besonderheit, denn es implizierte eine Zukunft, in der es zu weiteren Besuchen in seinem Arbeitszimmer kommen würde. Die goldene Schachtel, der hochgeklappte Deckel, der Augenblick der Spannung: Ihre kleine Hand schwebte über der reichen Fülle des Inhalts wie ein Kunstspringer am Rand des Beckens, der den richtigen Winkel seines Sprungs kalkulierte. Da waren die aus reiner Schokolade, dann die mit Nüssen und die mit Kirschsirup (die Einzigen, die sie nicht mochte: Sie spuckte sie in ein Papiertaschentuch). Am besten waren die ohne alles, die puren Schokoladen-Nuggets. Auf die war sie versessen, auf diese einzigartige Kostbarkeit von milchig schmelzender Süße, die sie zwischen all den andern zu erahnen suchte. War es diese Praline? Oder diese?
» Yolanda!«
Schweigen.
» Yolanda!«
In einem Wirbel von Röcken und Schleiern und wehenden Tüchern kam die Frau hereingelaufen. Also wirklich, dachte Lila, was für eine lächerliche Aufmachung. Wie oft hatte sie ihr schon gesagt, sie solle sich praktischer kleiden?
» Yolanda, wo haben Sie gesteckt? Ich rufe und rufe.«
Sie starrte Lila an, als habe die den Verstand verloren. Hatten sie sie jetzt auch auf ihre Seite gezogen? » Yolanda, Ma’am?«
» Wen sollte ich wohl sonst rufen?« Lila seufzte dramatisch. Die Frau konnte so begriffsstutzig sein. Und ihr Englisch war nicht das beste. » Ich möchte gern… etwas. Wenn es recht ist. Por favor.«
» Ja, Ma’am. Natürlich. Soll ich Ihnen etwas vorlesen?«
» Vorlesen? Nein.« Obwohl der Gedanke plötzlich ganz ansprechend war. Ein bisschen Beatrix Potter wäre vielleicht genau das Richtige für ihre strapazierten Nerven. Peter Hase in seiner kleinen blauen Jacke. Eichhörnchen Nusper und sein Bruder Blinzlberry– die beiden machten immer so viel Unsinn! Aber dann fiel es ihr wieder ein.
» Schokolade. Haben wir Schokolade?«
Die Frau schien immer noch nichts zu kapieren. Vielleicht hatte sie auch angefangen, Schnaps zu trinken. » Schokolade, Ma’am?«
» Ist vielleicht von Halloween noch etwas übrig? Bestimmt haben wir irgendwo etwas. Hershey’s Kisses. Almond Joy. Ein Kit-Kat. Ganz gleich, was.«
» Ähm…«
» Sí? Ein bisschen cho-co- LA -te? Sehen Sie doch im Schrank über der Spüle nach.«
» Verzeihung, ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Das war jetzt wirklich ärgerlich. Die Frau tat, als wüsste sie nicht, was Schokolade war!
» Ich begreife nicht, wo das Problem liegt, Yolanda. Ich muss sagen, ich finde Ihr Verhalten allmählich sehr seltsam. Äußerst seltsam sogar.«
» Bitte seien Sie nicht böse. Wenn ich wüsste, was es ist,
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