Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
war, tatsächlich genau das widerfuhr: Er wurde in Stücke gerissen.
Sie riss sich los, erst den Blick, dann entfernte sie sich von der ganzen Szene. Die Frau rannte, und sie rannte mit, sie rannte und wurde gleichzeitig gezogen, und die Energie ihrer Retterin– denn Sara begriff, dass diese Frau sie vor der Explosion beschützt hatte– strömte durch die Hände in ihren Körper. Die Stille hinter ihnen war mittlerweile einem Chor von Schreien und Rufen gewichen, einem gespenstisch musikalischen Klang. Hinter einem Gebäude, das noch dastand (waren nicht eben sämtliche Gebäude der Welt in die Luft geflogen?), kam die Frau rutschend zum Stehen und ließ sich zu Boden fallen. In der Hand hatte sie eine Art Haken, und mit diesem Haken hob sie einen Kanaldeckel und zog ihn zur Seite.
» Einsteigen.«
Sara gehorchte. Sie stieg in das Loch hinunter, wo eine Leiter wartete. Es stank widerlich. Nach Scheiße, denn da war Scheiße. Als Saras Füße den Boden berührten und ihre Turnschuhe sich mit dem widerwärtigen Wasser füllten, langte die Frau über ihren Kopf nach oben, verschloss das Einstiegsloch mit metallischem Dröhnen und stürzte Sara damit in absolute Dunkelheit. Erst jetzt wurde Sara in vollem Umfang klar, dass sie bei einer Explosion mit vielen Toten und von großer Zerstörungskraft dabei gewesen war. Und dass sie sich unmittelbar danach, wahrscheinlich innerhalb von weniger als einer Minute, in die Hände einer Frau begeben hatte, die sie nicht kannte und die sie im Handumdrehen in eine Art Nicht-Existenz entführt hatte: Man konnte sagen, Sara war verschwunden.
» Warte.«
Ein bläuliches Flämmchen flackerte auf: Die Frau hielt ein Feuerzeug an eine Fackel. Feuer loderte hoch und beleuchtete ihr Gesicht. Sie war irgendwo zwischen zwanzig und dreißig, hatte einen langen Hals und kleine dunkle Augen mit intensivem Blick. Irgendwie kam sie Sara bekannt vor, doch sie konnte nicht genau sagen, weshalb.
» Nicht mehr reden. Kannst du rennen?«
Sara nickte.
» Dann komm.«
Die Frau lief im Laufschritt durch die Abwasserröhre, und Sara folgte ihr. Das ging eine Weile so. Bei jedem der zahlreichen Abzweige wählte die Frau mit sicherem Gespür eine neue Richtung. Sara hatte unterdessen angefangen, ihren Körper einer Bestandsaufnahme zu unterziehen. Die Explosion war nicht folgenlos verlaufen. Sie hatte vielfältige Schmerzen; manche waren stechend, andere eher wie ein ausgebreitetes Pochen, aber keiner war so schlimm, dass er sie daran gehindert hätte, mit der Frau Schritt zu halten. Noch mehr Zeit verging, und irgendwann wurde Sara klar, dass die Strecke, die sie zurückgelegt hatten, inzwischen so groß war, dass sie sich außerhalb der umzäunten Peripherie des Homelands befinden mussten. Sie waren geflohen! Sie waren frei! Ein kreisrunder Lichtfleck erschien vor ihnen: ein Ausgang. Dahinter lag die Welt– eine gefährliche Welt, eine tödliche Welt, in der Virals ungehindert herumstreiften, aber trotzdem schimmerte sie vor ihr wie eine goldene Verheißung, und sie trat hinaus ins Licht.
» Entschuldige.«
Die Frau war hinter ihr. Sie hatte eine Hand um Saras Taille gelegt und zog sie fest an sich, und die andere Hand hob ein Tuch an ihr Gesicht. Was zum Teufel…? Aber bevor Sara einen einzigen Protestlaut von sich geben konnte, bedeckte das Tuch ihren Mund und ihre Nase und überflutete ihre Sinne mit einem scheußlichen, erstickenden chemischen Geruch. Millionen winzige Sterne explodierten in ihrem Kopf, und das war das Ende.
39
Lila Kyle. Sie hieß Lila Kyle.
Sie wusste natürlich, dass das Gesicht im Spiegel noch andere Namen trug. Queen Gaga. Ihre irre Majestät. Königlich ausgerastete Hoheit. O ja, Lila hatte sie alle schon gehört. Man musste schon früh aufstehen, wenn man Lila Kyle eins auswischen wollte. Aber was sie wirklich ärgerte, war das Geflüster. Dauernd flüsterten die Leute! Als wären sie die Erwachsenen und Lila das Kind. Als wäre sie eine Bombe, die jeden Augenblick explodieren konnte! Wie absonderlich! Absonderlich und ziemlich respektlos, denn zunächst einmal war sie nicht verrückt, da waren sie hundertprozentig im Irrtum. Und selbst wenn sie Lust hätte, sich bei Vollmond splitternackt auszuziehen und wie ein Hund (armer Roscoe) zu heulen, ginge das die anderen doch einen feuchten Dreck an, oder? Was scherte es sie überhaupt, ob sie verrückt war oder nicht! (Obwohl sie zugeben musste, dass es Tage gab, gewisse schwierige Tage, an denen ihre Gedanken ihr
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