Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
gelegt. Die Luft war schneidend kalt und rein. Wie leises Rufen zog sie durch ihren Körper und blies eisige Klarheit in ihre Lunge. Sie hätte gern ein Feuer angezündet, aber das könnte man sehen. Also wärmte sie sich die Hände mit ihrem Atem und stampfte mit den Füßen auf den gefrorenen Boden, wenn sie merkte, dass jegliches Gefühl aus ihnen wich. Dieser Kälteschock hatte etwas Passendes: Der Geschmack der Schlacht lag darin.
Soldier war nicht mehr bei ihr. Wo Alicia hinging, konnte er nicht folgen. Er hatte immer etwas Himmlisches an sich gehabt, als sei er aus der Geisterwelt zu ihr geschickt worden. Und er hatte gesehen, was mit ihr geschah– ihre finstere Verwandlung. Der wilde Geschmack, der sich in ihr entfaltete seit dem Tag, an dem sie auf dem Berggrat ihre Klinge in den Bock geschlagen und ihm das lebende Herz aus dem Leib gerissen hatte. Eine beschwingende Kraft lag darin, eine fließende Energie, aber das hatte seinen Preis. Sie fragte sich, wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor es sie überwältigte. Bevor die menschliche Oberfläche von ihr abfiel und sie nur noch eins war. Alicia Donadio, Späher und Scharfschütze des Expeditionsbataillons, gäbe es dann nicht mehr.
Geh jetzt, hatte sie zu Soldier gesagt. Du bist nicht sicher bei mir. Tränen zitterten auf der Oberfläche ihrer Augäpfel. Mein großer, schöner Junge. Ich werde dich nie vergessen.
Die letzten Meilen hatte sie zu Fuß zurückgelegt, immer am Fluss entlang. Sein Wasser floss noch ungehindert, doch das würde nicht so bleiben; an den Rändern hatten sich schon Eiskrusten gebildet. Die Landschaft war baumlos und kahl. Das Bild der Stadt starrte über den Horizont, als der Abend dämmerte. Sie roch sie schon seit Stunden, und ihre Größe verblüffte sie. Sie zog die alte, handgezeichnete Karte aus ihrem Rucksack und orientierte sich. Die Kuppel, die sich auf der Höhe erhob, das schüsselförmige Stadion, der Fluss quer durch die Mitte mit seinem Wasserkraft-Damm, das wuchtige Betongebäude mit den Kränen, die mit einem Drahtzaun umgebenen Reihen von Baracken– alles sah so aus, wie Greer es fünfzehn Jahre zuvor aufgezeichnet hatte. Sie holte den Radiokompass heraus, drehte den Verstärkerknopf mit Fingern, die vor Kälte taub waren, und schwenkte ihn hin und her. Statisches Rauschen, und dann zuckte die Nadel um den Bruchteil eines Zolls. Der Empfänger zeigte auf die Kuppel.
Da war jemand zu Hause.
Sie brauchte ihre Brille nur noch während der hellsten Stunden des Tages. Wie war das gekommen? Was war mit ihren Augen passiert? Sie hatte ihr Gesicht im Spiegel des Flusses betrachtet, und das orangegelbe Leuchten war weiter verblasst. Was hatte das zu bedeuten? Wenn man dieses Gesicht sah, konnte man denken, sie wäre eine gewöhnliche Frau.
Die ersten beiden Tage verbrachte sie damit, außen herumzugehen, um sich ein Bild von den Sicherheitsvorkehrungen zu machen. Und sie machte eine Bestandsaufnahme: Fahrzeuge, Truppenstärke, Bewaffnung. Den regulären Patrouillen auszuweichen, die aus dem Haupttor kamen, war leicht; sie gaben sich keine Mühe, als fühlten sie sich im Grunde nicht bedroht. Im Morgengrauen verließen Trucks die Kaserne und fuhren kreuz und quer durch die Stadt. Sie transportierten Arbeiter zu Fabriken, Scheunen und Feldern und brachten sie abends wieder zurück. Im Laufe ihrer Beobachtungen begriff Alicia, dass das, was sie da sah, eine Art Gefängnis war, ein Stadtstaat mit Sklaven und Sklavenhaltern, aber die Sicherheitsstrukturen erschienen kümmerlich. Die Zäune waren nur spärlich bewacht, und viele der Wachen schienen nicht einmal bewaffnet zu sein. Die Macht, die diese Bevölkerung in Schach hielt, wirkte von innen.
Bald konzentrierte sie sich vor allem auf zwei Gebäude. Das eine war der große Bau mit den Kränen. Er hatte das klobige Aussehen einer Festung. Durch das Fernglas sah Alicia nur einen einzigen Eingang, ein breites Portal mit schweren Metalltüren. Die Kräne waren nicht in Betrieb; anscheinend war der Bau vollendet, wurde aber nicht benutzt. Welchem Zweck sollte er dienen? Als Zuflucht vor den Virals, als Schutzbunker in letzter Not? Möglich war es, auch wenn nichts in der Stadt ein Gefühl der Bedrohtheit vermittelte.
Das andere Gebäude war das Stadion vor der Südgrenze der Stadt. Es war umzäunt, und anders als der Bunker war das Stadion täglich Schauplatz eines regen Treibens. Fahrzeuge kamen und gingen– Kastentransporter, aber auch größere Trucks, die immer in der
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