Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
auch das Bad ein Ort von totemhafter Bedeutung. In dem tiefen Kokon der Wanne mit den Löwenklauen konnte sie stundenlang im heißen Wasser liegen. Sara drehte den Hahn auf und stellte Lilas Seifen und Öle und die kleinen Creme-Tiegel neben zwei dicke, frisch gewaschene Handtücher. Lila badete gern bei Kerzenlicht. Sara nahm eine Schachtel Streichhölzer vom Toilettentisch und ging damit zum Kandelaber. Als Lila in der Tür erschien, war die Luft dampfgeschwängert. In ihrem schweren Dienstmädchengewand hatte Sara angefangen zu schwitzen. Lila schloss die Tür und wandte sich ab, um ihren Morgenmantel abzulegen und an einen Haken an der Tür zu hängen. Ihr Oberkörper war schmal, aber noch nicht so schmal, wie er am Ende des Zyklus werden würde; im Laufe der Tage wanderte die Körpermasse abwärts und verteilte sich auf Hüften und Oberschenkel. Sie drehte sich zu Sara um und betrachtete die Wanne mit Vorsicht im Blick.
» Dani, ich bin heute Morgen nicht ich selbst. Könnten Sie mir hineinhelfen?«
Sara nahm sie bei der Hand, und Lila stieg ängstlich über den Rand und ließ sich in das dampfende Wasser sinken. Als sie ganz eingetaucht war, wurde ihr Gesichtsausdruck weicher, und die Anspannung wich. Sie ließ sich bis ans Kinn hinuntergleiten, tat einen langen, zufriedenen Seufzer und bewegte das Wasser mit paddelnden Handbewegungen über ihrem Körper hin und her. Sie legte den Kopf zurück und machte ihr Haar nass, und dann rutschte sie wieder hoch und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand der Badewanne. Von der Schwerkraft befreit, schwebten ihre Brüste über dem Körper in einer Pantomime wiedergewonnener Jugendlichkeit.
» Ich liebe es, mich in die Badewanne zu legen«, murmelte sie.
Sara setzte sich auf den Schemel neben der Wanne. » Die Haare zuerst?«
» Mmmmm.« Lila schloss die Augen. » Bitte.«
Sara fing an. Wie bei allem verlangte Lila auch hier, dass alles exakt so gemacht wurde, wie sie es wünschte. Saras Hände massierten energisch zuerst die Wölbung der Schädeldecke und wanderten dann abwärts, um die langen Strähnen zwischen den Fingern zu glätten. Seife, Spülung– und dann das Gleiche noch einmal mit dem duftenden Öl. Manchmal musste Sara die Prozedur mehrmals wiederholen.
» Heute Nacht hat es geschneit«, sagte sie vorsichtig.
» Mmmmm.« Lilas Gesicht war entspannt, und ihre Augen waren immer noch geschlossen. » Tja, typisch Denver. Mein Vater hat immer gesagt, wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte eine Minute, und es wird sich ändern.«
Die Aussprüche ihres Vaters, pflichtbewusst als solche gekennzeichnet, tauchten in jedem ihrer Gespräche auf. Mit einem Krug, den sie ins Badewasser tauchte, spülte Sara die Seife von Lilas Stirn und fing an, das Öl einzumassieren.
» Aber dann wird wohl alles geschlossen sein«, fuhr Lila fort. » Ich hatte eigentlich auf den Markt gehen wollen. Wir haben praktisch nichts mehr im Haus.« Soweit Sara wusste, hatte Lila noch nie einen Fuß vor die Tür des Apartments gesetzt, aber was machte das schon? » Wissen Sie, was mir gefallen würde, Dani? Ein langer, schöner Lunch. In einem außergewöhnlichen Lokal. Mit hübschen Tischdecken und Porzellan und Blumen.«
Sara hatte gelernt mitzuspielen. » Das hört sich gut an.«
Bei der Erinnerung daran tat Lila einen langen Seufzer und ließ sich tiefer ins Wasser sinken. » Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lange es her ist, dass ich einen langen, schönen Lunch genossen habe.«
Ein paar Minuten vergingen, während Sara das Öl in Lilas Kopfhaut massierte. » Ich glaube, Eva würde gern ein bisschen nach draußen gehen.« Es kam ihr wie eine monströse Lüge vor, das Kind so zu nennen, aber manchmal war es nicht zu vermeiden.
» Ja, das würde sie wohl«, sagte Lila unverbindlich.
» Ich habe mich gefragt, gibt es eigentlich andere Kinder, mit denen sie spielen könnte?«
» Andere Kinder?«
» Ja, in ihrem Alter. Ich dachte mir, es wäre doch gut für sie, ein paar Freunde zu haben.«
Lila runzelte voller Unbehagen die Stirn, und Sara fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. » Na ja«, sagte Lila wieder etwas nachgiebiger, » da wäre dieses Nachbarsmädchen, die kleine– wie heißt sie gleich? Mit den dunklen Haaren. Aber ich sehe sie kaum. Die meisten Familien hier bleiben für sich. Lauter Spießer, wenn Sie mich fragen.« Sie schwieg kurz. » Aber Sie sind ihr doch eine gute Freundin, oder etwa nicht, Dani?«
Eine Freundin. Was für eine schmerzhafte Ironie.
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