Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
könnte sie sich nach neuen Ölen oder Seifen umsehen. Die Bitte versetzte Lila in greifbare Unruhe; sie war in den letzten Tagen sehr anhänglich geworden und ließ Sara kaum noch aus den Augen. Aber schließlich fügte sie sich der sanften Gewalt ihrer Argumente. Bleiben Sie mir nur nicht zu lange, sagte sie. Ich weiß nie, was ich ohne Sie anfangen soll, Dani.
Vale hatte ihr den Weg geebnet. Am Eingang reichte der Kol ihr den Pass mit der routinemäßigen Ermahnung, er sei nur für zwei Stunden gültig. Sara trat hinaus in den Wind und nahm Kurs auf den Markt. Hier durften nur Kols und Rotaugen Geschäfte machen. Das Geld bestand aus kleinen Plastikchips in drei Farben: Rot, Blau und Weiß. In der Tasche an Saras Gewand waren fünf Stück von jeder Sorte, ein Teil des Lohns, den Lila ihr alle sieben Tage auszahlte, um die Fiktion zu untermauern, Sara sei ihre bezahlte Angestellte. In der Gegend, die einmal das kleine Geschäftsviertel der Stadt gewesen war, drei Blocks mit Backsteingebäuden, die dicht an der Straße standen, hatte man den Schnee von den Gehwegen geräumt. Der größte Teil der Stadt war unbewohnt und leer und versank sanft in einem langsamen Verfall. Fast alle Rotaugen bis auf die aus der Führungsebene wohnten in einem Komplex von mittelgroßen Apartmenthäusern am Südrand der Innenstadt. Der Markt war das Herz der Stadt, mit Checkpoints an beiden Enden. An manchen Gebäuden fanden sich immer noch Schilder, die ihre ursprüngliche Funktion bezeichneten: Iowa State Bank, Fort Powell Army-Navy, Wimpy’s Café, Prairie Books and Music. Es gab sogar ein kleines Kino mit einem Vordach über dem Eingang. Sara hatte gehört, dass die Kols manchmal dort hineingehen und sich die Handvoll Filme ansehen durften, die dort immer wieder gezeigt wurden.
Am Checkpoint zeigte sie ihren Pass vor. Die Straßen waren leer bis auf die Patrouillen und ein paar Rotaugen in ihren luxuriösen Mänteln, die mit Sonnenbrillen auf der Nase spazieren gingen. Von ihrem Schleier verhüllt, bewegte Sara sich in einem Kokon der Anonymität, aber sie wusste, dass dieses Gefühl von Sicherheit eine gefährliche Illusion war. Sie ging weder schnell noch langsam und hielt den Kopf gesenkt, um sich vor den kalten Böen zu schützen, die durch die Straßen und um die Häuserecken fegten.
Sie kam zur Apotheke. Glocken klingelten, als sie eintrat. Drinnen war es warm und duftete nach Holzrauch und Kräutern. Fast alle Regale waren leer bis auf eins mit Seifen und Ölen. Für die meisten Arzneimittel, die man hier bekam, war kein Rezept nötig. Sie wurden von einer Frau mit groben grauen Haaren und einem runzligen, zahnlosen Mund ausgegeben, die hinter der Theke stand und sich in dem Moment, als Sara eintrat, über eine Waage beugte und winzige Mengen von einem hellgelben Pulver abmaß, die sie mit einem Trichter in kleine Glasfläschchen füllte. Rasch hob sie den Blick, schaute zu dem Kol hinüber, der vor dem Regal herumlungerte, und wieder zurück zu Sara. Vorsicht. Ich weiß, wer du bist. Sag nichts, bis ich ihn los bin. Dann fragte sie in lautem, hilfsbereitem Ton: » Sir, suchen Sie vielleicht etwas Spezielles?«
Der Kol schnupperte an einem Stück Seife. Er war Mitte dreißig und nicht hässlich, und er wirkte eitel. Er legte die Seife wieder an ihren Platz im Display. » Etwas gegen Kopfschmerzen.«
» Ah.« Ein beruhigendes Lächeln. » Einen Augenblick.«
Die alte Frau nahm ein Glas von der Wand hinter ihr herunter, löffelte getrocknete Kräuter in eine Papiertüte und reichte sie ihm über die Theke. » Lösen Sie das in warmem Wasser auf. Eine Prise sollte genügen.«
Er betrachtete das Päckchen voller Unbehagen. » Was ist da drin? Du versuchst doch nicht, mich umzubringen, alte Frau?«
» Das ist nur ganz normaler Wacholder. Ich nehme es selbst. Wenn Sie wollen, koste ich gern davon.«
» Schon gut.«
Er bezahlte mit einem einzelnen blauen Chip, und die Frau schaute ihm nach, als er unter dem Klingeln der Glöckchen verschwand.
» Komm mit«, sagte sie zu Sara.
Sie führte sie zu einem Lagerraum im hinteren Teil. Hier stand ein Tisch mit ein paar Stühlen, und eine Tür führte hinaus in den Hof. Sie befahl Sara zu warten und kehrte nach vorn in den Laden zurück. Ein paar Minuten vergingen, dann öffnete sich die Tür: Nina– im Kittel einer Flachländerin mit einer dunklen Jacke. Ein langer Schal verhüllte die untere Hälfte ihres Gesichts.
» Das ist unglaublich dumm, Sara. Weißt du, wie gefährlich
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