Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Sara. Vor lauter Frust stiegen ihr Tränen in die Augen, während Hollis auf seine warme, volltönende Art weiter lachte. » Das ist nicht lustig, nicht lustig, nicht lustig…« und immer so weiter. Dann löste sich der Traum mit einem Mal auf, und sie war wach.
Einen Moment lang blieb sie still liegen. Das Klopfen kam vom Fenster. Sie warf die Decke zur Seite, ging quer durch das Zimmer mit seinen klobigen Möbeln und prunkvollen Stoffen und zog den Vorhang beiseite. Das Gelände um die Kuppel wurde nachts beleuchtet, eine helle Insel in einem Meer von Dunkelheit, und durch die Lichtstrahlen wehte der Schnee herab und wirbelte im böigen Wind. Es sah aus wie Eiskristalle, nicht wie Schnee, aber während sie noch dastand, veränderte sich etwas. Die Kristalle wurden dicker und schwerer. Sie wurden zu Flocken und legten sich auf alles wie ein weißer Mantel. In den beiden anderen Zimmern des Apartments schliefen Lila und Saras Tochter in ihrem warmen kleinen Bett. Wie sehr sie sich danach sehnte, zu ihnen zu gehen, ihr Kind aufzunehmen und zu ihrem Sofa zu tragen, um es in den Armen zu halten. Um ihr Haar zu berühren, ihre Haut, ihren warmen Atem zu spüren. Aber das war ein Traum, der sich nicht erfüllen würde. Von Sehnsucht geschüttelt, schaute Sara hinaus und beobachtete, wie der Schnee fiel; genoss es zu sehen, wie er die Welt langsam verschwinden ließ, auch wenn das, wie sie wusste, unten im Flachland etwas anderes bedeutete, nämlich erfrorene Finger, erfrorene Zehen, von Kälte geschüttelte Körper. Monate der Dunkelheit und des Elends. So, dachte Sara fröstelnd, der Winter ist da. Und zum Glück bin ich im Warmen.
Aber als sie am Morgen aufwachte, hatte sich schon wieder etwas verändert.
» Dani, sieh doch! Schnee!«
Glitzerndes Licht brandete ins Zimmer. Das kleine Mädchen war im Nachthemd auf einen Stuhl geklettert, hatte die Vorhänge aufgerissen und drückte die Nase an das überfrorene Fenster. Hastig sprang Sara vom Sofa und schloss den Vorhang wieder.
» Aber ich will es sehen!«
» Dani!«, kam es aus dem hinteren Zimmer. » Wo sind Sie? Ich brauche Sie!«
» Sofort!« Sara schaute dem Kind in die flehenden Augen. » Tut mir leid, Schatz. Du kennst die Regel.«
» Aber sie kann doch im Bett bleiben!«
» Dani!«
Sara seufzte tief. Morgens war Lila am schwierigsten, gepeinigt von gegenstandslosen Beklemmungen und namenlosen Ängsten. Mit jedem Tag, der seit ihrer letzten Fütterung verging, wurde es schlimmer. Die kräftigende Wirkung des Blutes machte sie fröhlich und liebevoll zu ihnen beiden, ja sogar ein bisschen aufgekratzt, auch wenn ihr Interesse an Kate eher abstrakt als persönlich erschien; anscheinend war sie sich über das Alter des Mädchens nicht ganz im Klaren, denn oft sprach sie mit ihr wie mit einem Baby. An diesen guten Tagen war sie offenbar fest davon überzeugt, in einer Gegend namens Cherry Creek zu wohnen und mit einem Mann namens David verheiratet zu sein– auch wenn sie manchmal von jemandem namens Brad redete: Die beiden waren austauschbar–, und sie hielt Sara dann für eine Haushälterin, die vom » Service« geschickt worden war, was immer das sein mochte. Doch wenn die Wirkung des Blutes nach vier oder fünf Tagen nachzulassen begann, wurde sie schroff und panisch, als sei es zunehmend schwierig, diese elaborierte Fantasie aufrechtzuerhalten.
» Lass mich zu ihr gehen und sie ins Bad bringen«, sagte sie leise zu Kate. » Danach werde ich sehen, ob ich mit dir zum Spielen hinausgehen kann. Abgemacht?«
Die Kleine nickte begeistert.
» Dann zieh dich jetzt an.«
Lila saß aufrecht im Bett und hatte die Falten ihres dünnen Nachthemds vor der Brust zusammengerafft. Wenn man Sara danach gefragt hätte, hätte sie das Alter der Frau auf ungefähr fünfzig geschätzt, aber morgen würde sie älter aussehen; die Falten in ihrem Gesicht wären dann tiefer, die Muskeln schlaffer und ihr Haar grauer und dünner. Manchmal ging die Veränderung so schnell vor sich, dass Sara dabei zusehen konnte. Dann brachte Guilder das Blut, Sara wurde mit Kate aus dem Zimmer verbannt, und wenn sie zurückkamen, war Lila wieder eine Fünfundzwanzigjährige mit vollem Haar und glatter Haut, und der Zyklus begann von Neuem.
» Warum antworten Sie nicht? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
» Verzeihung, ich habe verschlafen.«
» Wo ist Eva?«
Sara antwortete, das Mädchen ziehe sich an, und ging dann hinaus, um ein Bad einzulassen. Wie die Frisierkommode der Frau war
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