Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
ausbreite für immer und ewig?
Er hatte angefangen zu weinen.– Lass mich sterben. Bitte. Ich will nur sterben.
Du liebst sie, nicht wahr, Grey?
Er schluckte und schmeckte die Fäulnis in seinem Mund. Sein Körper war eine Höhle voller Dreck und Verwesung.– Ja.
Die Frau. Lila. Sie bedeutet dir alles.
– Ja.
Dein ist das Blut, das in ihren Adern fließt wie meins in deinen. Siehst du? Verstehst du? Wir sind alle eins, Grey. Du liegst in Ketten, aber du bist nicht allein. Der Gott Greys ist bei dir. Der Gott all dessen, was ist und was noch kommen wird. Der Gott der nächsten, neuen Welt. Es wird einen besonderen Platz für dich geben in dieser Welt, Grey.
– In der nächsten, neuen Welt.
Sie kommen, Grey.
– Wer? Wer kommt?
Aber noch während er die Frage stellte, wusste er es.
Unsere Brüder.
57
Und plötzlich war sie frei. Alicia Donadio, die Letzte der Ersten, das Neue Wesen, Captain der Expedition, sprang über den Drahtzaun hinweg in die Nacht und davon.
Sie rannte. Sie rannte und rannte immer weiter.
Unterwegs hatte sie ein paar Männer getötet. Auch ein paar Frauen. Alicia hatte noch nie zuvor eine Frau getötet, aber alles in allem fühlte es sich nicht so sehr anders an, denn am Ende verließ jeder sein Leben auf die gleiche Weise. Die gleiche Überraschung in den Augen, das gleiche zarte Betasten der Wunde mit den Fingerspitzen, der gleiche ätherische Blick, ins Jenseits gerichtet. Es hatte eine gewisse Anmut.
Vielleicht gefiel es Alicia deshalb so sehr.
Sie hatte ihre Sachen im Gebüsch gefunden, wo sie sie zurückgelassen hatte. Einen Spieß und eine Armbrust. Den Radiokompass. Den gekreuzten Gurt mit den Messern. Ein paar Kleidungsstücke, eine Decke, Schuhe. Hundert Schuss Munition, aber keine Waffe, um sie abzufeuern. Sods Messer hatte sie in der linken Niere eines Mannes zurückgelassen, der ihr befohlen hatte, stehen zu bleiben– als wäre das tatsächlich in Frage gekommen. Als sie aus dem Gefängnis geflohen war, hatte sie nicht einmal gewusst, ob es draußen Tag oder Nacht sein würde. Die Zeit war aufgehoben, und die Welt, die sie vorfand, hatte sich verändert. Nein, das stimmte nicht. Die Welt war noch dieselbe; sie war es, die sich verändert hatte. Sie fühlte sich abseits von allem andern, spektral, fast körperlos. Über ihr funkelten die Wintersterne hell und rein, fast wie Eissplitter. Sie musste eine Unterkunft finden. Sie musste schlafen. Sie musste vergessen.
Sie flüchtete sich in einen Schuppen, der vielleicht einmal Hühner beherbergt hatte. Das halbe Dach war weg, und eigentlich waren nur noch die Umrisse erhalten: Eine Wand stand noch, die kleinen Käfige, verkrustet von fossilem Kot, und der Boden war aus hartem Lehm. Sie wickelte sich in ihre Decke, und ihr geschundener Körper zitterte vor Kälte. Louise, dachte sie, war es so? In ihrem Kopf überschlugen sich die Erinnerungen, hell aufstrahlende Qual, die ihre Gedanken spaltete wie Gewitterblitze. Wann würde das aufhören? Wann würde das aufhören?
Es war noch dunkel, als sie aufwachte und ihr Verstand langsam wieder aus diesem Zustand erwachte. Etwas Warmes streifte ihren Nacken. Sie drehte sich um, öffnete die Augen und sah eine riesige dunkle Gestalt, die über ihr aufragte.
Mein braver Junge, dachte sie, und dann sagte sie es laut: » Mein braver, braver Junge.« Soldier senkte das Gesicht auf sie, seine großen Nüstern blähten sich und badeten ihr Gesicht in seinem Atem. Er leckte mit seiner langen Zunge über ihre Augen und ihre Wangen. Es war ein Wunder. Ein anderes Wort gab es nicht. Jemand war gekommen. Es war wirklich jemand gekommen. Alicia hatte sich danach gesehnt, ohne es zu wissen: nach einer Seele, die ihr Trost spendete in dieser trostlosen Welt.
Und dann, unglaublich, kam eine zweite Gestalt aus der Dunkelheit heran, und eine Frauenstimme war zu hören, fremd und vertraut zugleich:
» Alicia. Hallo.«
Die Frau hockte sich vor sie und schlug die Kapuze ihres Mantels zurück. Lange schwarze Locken fielen herab.
» Es ist gut«, sagte sie leise. » Ich bin jetzt hier.«
Amy? Aber das war nicht die Amy, die sie kannte.
Diese Amy war eine Frau.
Eine kraftvolle, schöne Frau mit dichtem dunklem Haar und Augen wie Fenster, die von innen golden beleuchtet waren. Das gleiche Gesicht, aber doch anders, tiefgründiger; es strahlte so etwas wie Vollendung aus, innere Reife. Ein Gesicht voller Weisheit, dachte Alicia. Die Schönheit war nicht nur äußerlich, mehr als eine
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