Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
seine Finger kaum mit dem Knoten fertigwurden. Und hungrig. Kalte Leere saß in seinem Magen wie ein Stein. Ein Besuch bei seinem alten Freund Grey wäre genau das Richtige für seine Nerven, aber daran hätte er früher denken sollen.
Er stand vor dem Spiegel und atmete tief durch. Ruhig, Guilder, ganz ruhig. Du weißt, was du zu tun hast. Es ist doch nur ein neuer Tag im Büro. Kann auch nicht schlimmer werden als ein Meeting mit den Vereinigten Stabschefs, oder?
Konnte es doch, ehrlich gesagt. Aber es hatte keinen Sinn, sich weiter in die Sache hineinzusteigern.
Als er ins Foyer kam, wartete Suresh dort mit dem Fahrer. » Die Trucks sind unterwegs.« Guilder zog sich die Handschuhe an. » Wollen Sie eine volle Einheit als Eskorte?«
Guilder lehnte ab; er würde allein fahren. Bloß kein großes Aufheben machen. Die beiden Männer wechselten einen Händedruck.
» Viel Glück«, sagte Suresh.
Als der Wagen bergab rollte, ließ Guilders Beklommenheit allmählich nach. Am Fluss bogen sie nach Norden und fuhren in Richtung » Projekt«. Die dunkle Silhouette ragte wie ein Grabstein in den Himmel, ein noch schwärzeres Viereck vor dem nächtlichen Schwarz. Das Portal stand offen und erwartete ihn.
Sie hielten nicht an, sondern fuhren auf dem Wirtschaftsweg nach Osten. Früher hatte er dazu gedient, Material auf die Baustelle zu bringen: behauene Steinblöcke, die Betonmischer mit ihren kreisenden Ladungen, die Sattelschlepper mit den zusammengesuchten Stahlträgern. Jetzt würde hier etwas ganz anderes transportiert werden. Sie fuhren durch das Nebentor, und fünf Minuten später hielten sie neben den beiden Sattelschleppern, die auf einem gefrorenen Maisstoppelfeld warteten.
Guilder schickte den Fahrer weg. Die Kabinen der Sattelschlepper waren leer; auch ihre Fahrer hatten sich zurückgezogen. Guilder legte ein Ohr an die Wand des Containers und hörte gedämpftes Gemurmel und ab und zu das angstvolle Weinen einer Frau.
Die Stimme in seinem Kopf schwieg. Eine tiefe Stille umgab ihn wie die erwartungsvolle Ruhe vor einem Sturm. Sie würden von Westen kommen. Er wartete.
Dann:
Der Erste erschien, dann noch einer und noch einer, elf phosphoreszierende Punkte in gleichmäßigen Abständen am Horizont. Die Lücken zwischen ihnen wurden kleiner. Es sah aus wie die Lichter eines riesigen Flugzeugs, das sich im Anflug befindet.
Kommt zu mir, dachte Guilder. Kommt zu mir.
Details traten hervor– nein, sie wurden größer. Einer war kleiner als der Rest: Carter natürlich, der undurchschaubare, anomale Anthony Carter. Aber bei den anderen verschlug es einem den Atem. Mit ihren kraftvollen Gestalten und anmutigen Bewegungen und der absoluten Herrschaft über sich selbst schienen sie den Raum um sich herum schrumpfen zu lassen, die Dimensionen zu verzerren und den Lauf der Zeit zu ändern. Sie flossen auf ihn zu wie ein leuchtender Fluss und badeten ihn im Licht ihres majestätischen Grauens.
Kommt zu mir, dachte er. Kommt zu mir.
Der Augenblick ihrer Ankunft war erfüllt von einem Gefühl der Ganzheit. Es war wie eine Taufe. Wie der geschlossene Deckel eines Buches. Ein Sprung aus großer Höhe in blaues Wasser und der Augenblick des Eintauchens, in dem die Welt verschwindet. Sie standen vor ihm, groß und schrecklich. Er trank die majestätischen, furchtbaren Bilder ihrer Erinnerungen, als versinke er in einem Becken voll des reinen Wahnsinns. Ein weinendes Mädchen auf einer Matratze. Ein Ladenbesitzer mit erhobenen Händen, der knöcherne Druck einer Pistolenmündung an der senkrechten Falte zwischen seinen Augenbrauen. Das Gefühl des Betrunkenseins, ein Junge auf dem Fahrrad, kurz durch die Frontscheibe gesehen, und der dumpfe Schlag des Aufpralls, gefolgt von einem harten Ruck, als die Räder über die kleine Gestalt hinwegrollen. Ein sexueller Rausch und die unglaublich weit aufgerissenen Augen einer Frau, um deren Hals sich die Schnur spannt. Ein Chor des Entsetzens, der Verkommenheit, der schwarzen Bösartigkeit.
Ich bin Morrison-Chavez-Baffes-Turrell-Winston-Sosa-Echols-Lambright-Martínez-Reinhardt-Carter.
Guilder entriegelte die Tür des Containers am ersten Laster. Natürlich versuchten die Gefangenen wegzulaufen. Guilder hatte verboten, sie zu fesseln; nichts sollte ihre Beweglichkeit einschränken. Die meisten schafften nur ein paar Schritte. Die wenigen, die weiter kamen, erlebten vielleicht eine flüchtige Hoffnung auf Rettung. Ihre sinnlose Flucht war Teil der Verzückung. Der Augenblick
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