Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
dass ihm jemand vertraute, auch wenn er es nicht verdiente.
Er holte das Material aus der Diele herauf und machte sich an die Arbeit. Anstreichen gehörte nicht zu den Dingen, die er schon oft getan hatte, aber ein Atomphysiker brauchte man dazu nicht zu sein. Bald hatte er seinen Rhythmus gefunden, und sein Kopf wurde angenehm leer. Fast gelang es ihm zu vergessen, wie er im » Red Roof« aufgewacht war. Er verdrängte Zero, Richards, das Chalet und alles andere. Eine Stunde verging, dann noch eine. Er war gerade dabei, die Ecken unter der Decke nachzuziehen, als Lila in der Tür erschien. Sie hatte ein Tablett mit einem Sandwich und einem Glas Wasser mitgebracht, und sie trug jetzt ein Umstandskleid aus Jeansstoff mit hoch angesetzter Taille. Trotz des großzügigen Schnitts sah sie darin noch schwangerer aus.
» Ich hoffe, Sie mögen Thunfisch.«
Er stieg von der Leiter und nahm ihr das Tablett ab. Das Brot war pelzig von grünem Schimmel, und es roch nach ranziger Mayonnaise. Grey drehte sich der Magen um.
» Später vielleicht«, stammelte er. » Erst will ich alles noch einmal überstreichen.«
Lila sagte nichts weiter dazu, sondern trat zurück und sah sich im Zimmer um. »Ich muss sagen, das sieht wirklich besser aus. So viel besser. Ich weiß nicht, warum ich nicht gleich an Weiß gedacht habe.« Sie sah wieder Grey an. » Sie finden mich hoffentlich nicht allzu direkt, Lawrence, und ich möchte mir da auch nichts herausnehmen. Aber Sie brauchen nicht zufällig eine Bleibe für die Nacht?«
Grey fühlte sich überrumpelt. So weit voraus hatte er nicht gedacht. Er hatte sich überhaupt keine Gedanken gemacht, wie es weitergehen könnte– als wäre der Wahnzustand dieser Frau ansteckend. Aber natürlich würde sie wollen, dass er blieb. Nachdem sie so viele Tage allein gewesen war, kam es überhaupt nicht in Frage, dass sie ihn wieder laufen ließ. Es ging überhaupt nur darum, ihn hierzubehalten. Außerdem– wo sollte er sonst hin?
» Gut. Das wäre geklärt.« Sie lachte nervös. » Ich muss sagen, ich bin sehr erleichtert. Ich habe ein so schlechtes Gewissen, weil ich Sie hierhergeschleift habe, ohne auch nur zu fragen, ob Sie vielleicht woanders sein sollten. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
» Ist schon okay«, sagte Grey. » Ich meine, ich bleibe gern.«
» Sehr schön.« Anscheinend war die Unterhaltung zu Ende, aber in der Tür drehte Lila sich noch einmal um und rümpfte voller Abscheu die Nase. » Tut mir leid wegen des Sandwichs. Ich weiß, es ist wahrscheinlich nicht besonders appetitlich. Ich will schon die ganze Zeit einkaufen gehen. Ich mache Ihnen dafür ein schönes Abendessen.«
Grey arbeitete den ganzen Nachmittag hindurch und war mit dem dritten Anstrich fertig, als die untergehende Sonne durch die Fenster schien. Das Zimmer sah gar nicht übel aus, das musste man sagen. Er legte Pinsel und Walzen in die Farbwanne, ging die Treppe hinunter und durch den zentralen Flur nach hinten in die Küche. Wie der Rest des Hauses wirkte sie spartanisch und modern– weiße Schränke, Arbeitsflächen aus schwarzem Granit, chromglänzende Geräte–, und die Gesamtwirkung wurde lediglich beeinträchtigt durch die Abfälle, die haufenweise überall herumlagen und nach verfaultem Essen stanken. Lila stand am Herd– Gas hatte sie anscheinend noch– und rührte bei Kerzenlicht in einem Stieltopf. Der Tisch war gedeckt: Porzellan, Servietten, Silberbesteck, sogar ein Tischtuch.
» Ich hoffe, Sie mögen Tomaten«, sagte sie und lächelte ihn an.
Sie führte ihn in eine Kammer mit einem Spülbecken hinter der Küche. Es gab kein Wasser, um die Pinsel auszuwaschen; also ließ Grey sie im Becken liegen. Der Gedanke an Tomatensuppe war widerlich, aber er würde sich überzeugend bemühen müssen, sie zu essen. Das war einfach unvermeidlich. Als er zurückkam, schöpfte Lila die dampfende Suppe in zwei Schalen und trug sie zusammen mit einem Teller Ritz Cracker zum Tisch.
» Bon appétit.«
Beim ersten Löffel musste er beinahe würgen. Es kam ihm nicht einmal vor, als wäre es überhaupt essbar. Es gelang ihm, mit Müh und Not zu schlucken. Lila, die ihm gegenübersaß, schien seine Qual nicht zu bemerken. Sie bröckelte die Cracker in ihre Suppe und löffelte sie. Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft nahm Grey noch einen Löffelvoll und dann einen dritten. Er fühlte, wie die Suppe sich auf dem Grund seiner Eingeweide als zähe Masse niederließ. Als er den Löffel zum vierten Mal
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