Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
sie.
Grey starrte sie an.
» Meine Tochter, die gestorben ist«, erklärte Lila. » Sie hieß Eva.«
Dann war sie weg. Grey hörte, wie sie langsam durch die Diele und dann die Treppe hinaufschlurfte. Er räumte den Tisch ab. Gern hätte er das Geschirr abgewaschen, damit sie morgen früh in eine saubere Küche herunterkäme, aber das ging nicht. Er musste es zu allem andern in die Spüle stellen.
Dann nahm er eine der Kerzen vom Tisch und ging ins Wohnzimmer. Aber kaum hatte er sich auf das Sofa gelegt, wusste er, dass an Schlaf nicht zu denken war. Sein Hirn hüpfte hellwach in seinem Schädel herum, und ihm war immer noch ein bisschen übel von der Suppe. Seine Gedanken kehrten zurück zu der Szene in der Küche und zu dem Augenblick, als er die Arme um sie gelegt hatte. Eigentlich war es keine richtige Umarmung gewesen; er hatte Lila nur festhalten wollen, damit sie ihn nicht mehr schlagen konnte. Doch irgendwann war es so etwas wie eine Umarmung geworden. Es hatte sich gut angefühlt– mehr als gut sogar. Es war nichts Sexuelles gewesen– nicht so, wie Grey es in Erinnerung hatte. Es war Jahre her, dass Grey etwas erlebt hatte, das auch nur annähernd Ähnlichkeit mit einem sexuellen Gedanken hatte– dafür sorgten die Anti-Androgene–, und außerdem war die Frau doch schwanger, Himmel noch mal. Wenn man es sich überlegte, war es vielleicht gerade das, was an der ganzen Geschichte so nett war. Schwangere Frauen liefen nicht einfach rum und umarmten grundlos wildfremde Leute. Als er Lila im Arm gehalten hatte, meinte er, in einen Kreis zu treten, und in diesem Kreis waren nicht nur zwei Menschen, sondern drei: Das Baby war auch da. Vielleicht war Lila verrückt, vielleicht auch nicht. Er war kaum der Richtige, um das zu beurteilen. Aber er sah nicht, was daran wichtig sein sollte. Sie hatte ihn auserwählt, damit er ihr half, und genau das würde er tun.
Grey hatte sich fast in den Schlaf geredet, als das schrille Jaulen eines Tieres die Stille zerriss. Ruckartig richtete er sich auf der Couch auf und schüttelte seine Verwirrtheit ab: Das Geräusch war von draußen gekommen. Er lief zum Fenster.
In diesem Augenblick fiel ihm Iggys Pistole ein. Er war so abgelenkt gewesen, dass er sie im Home Depot zurückgelassen hatte. Wie hatte er so dämlich sein können?
Er drückte das Gesicht an die Fensterscheibe. Ein dunkler Klumpen lag mitten auf der Straße, ungefähr so groß wie ein Labrador Retriever. Es sah aus, als bewege er sich nicht. Grey wartete einen Augenblick lang mit angehaltenem Atem. Eine helle Gestalt sprang durch die Baumwipfel, verblasste und verschwand.
Grey wusste, dass er die ganze Nacht kein Auge zutun würde. Doch das war nicht wichtig. Das Gefühl überkam ihn wie ein Schwall kaltes Wasser. Oben schlief Lila und träumte von einer Welt, die es nicht mehr gab, während draußen vor den Mauern dieses Hauses ein monströses Unheil lauerte– und Grey war Teil dieses Unheils. Seine Gedanken kehrten zu der Szene in der Küche zurück, und er sah Lila an der Spüle stehen. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen, und ihre Fäuste waren wütend geballt. Ich kann sie nicht wieder verlieren! Ich kann nicht!
Er würde bis zum Morgen am Fenster Wache stehen, und sobald die Sonne aufging, würde er sie schleunigst von hier wegbringen.
Lila Kyle brütete in der Dunkelheit.
Sie hatte das Jaulen von draußen gehört. Ein Hund, das wusste sie: Einem Hund war etwas passiert. Ein rücksichtsloser Autofahrer, der zu schnell durch die Straße gerast war? Sicher war es das. Die Leute sollten besser auf ihre Haustiere aufpassen.
Nicht denken, befahl sie sich. Nicht denken nicht denken nicht denken.
Lila fragte sich, wie es wohl wäre, ein Hund zu sein. In mancher Hinsicht konnte es von Vorteil sein, nahm sie an: Man genoss ein absolut unbekümmertes Dasein, wollte nur den Kopf getätschelt bekommen oder Gassi gehen. Wahrscheinlich hatte Roscoe (denn es war Roscoe gewesen, den sie da gehört hatte, der arme Roscoe) gar nicht mitbekommen, was da mit ihm passierte. Vielleicht ein kleines bisschen, ganz zum Schluss. Gerade war er noch schnüffelnd über die Straße gestreunt und hatte etwas zu fressen gesucht– Lila erinnerte sich an das schlaffe Ding, das sie am Morgen in seiner Schnauze gesehen hatte, und schob diese unangenehme Erinnerung sofort beiseite–, und im nächsten Moment… Tja, aber einen nächsten Moment hatte es nicht gegeben. Roscoe war tot.
Und jetzt war da dieser Mann.
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