Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
in die Augen stiegen. Sie hatte nicht vorgehabt, David zu heiraten! Warum hatte Lila David geheiratet– den selbstgerechten, erdrückenden, ewigen Gutmenschen David–, wenn sie doch schon mit Brad verheiratet war? Zumal jetzt, da Eva unterwegs war, um wieder eine Familie aus ihnen zu machen?
Denn Lila liebte ihn noch immer; das war der springende Punkt. Das war das traurige und leidvolle Geheimnis. Sie hatte nie aufgehört, Brad zu lieben, und er umgekehrt auch nicht, nicht eine Sekunde lang, nicht einmal, als ihre Liebe durch den Verlust ihres kleinen Mädchens so schmerzhaft geworden war, dass keiner von ihnen sie mehr ertragen konnte. Sie hatten sich getrennt, um zu vergessen, denn zusammen mit dem andern hatte es keiner von beiden gekonnt: ein trauriges, unausweichliches Auseinandergehen wie das urzeitliche Zerbrechen der Kontinente. Bis zum bitteren Ende hatten sie sich dagegen gewehrt. In der Nacht vor seinem Auszug– die Koffer standen im Hausflur in der Maribel Street, die Anwälte waren eingeschaltet, und so viele Tränen waren mittlerweile geflossen, dass keiner von ihnen mehr wusste, warum sie überhaupt weinten, denn dieser Zustand war so selbstverständlich geworden wie das Wetter, eine Welt aus ewigen Tränen–, in der Nacht vor seinem Auszug also war er in das Schlafzimmer gekommen, das er längst geräumt hatte, und zu ihr unter die Decke gekrochen, und für eine einzige Stunde waren sie wieder ein Paar gewesen, das sich wortlos im Gleichtakt bewegte, und noch immer wollten ihre Körper, was ihre Herzen nicht länger ertrugen. Kein Wort hatten sie gesprochen, und am Morgen war Lila allein aufgewacht.
Aber jetzt war alles anders. Eva kam! Eva war praktisch schon da! (Tot, tot, alle waren tot.) Sie würde Brad einen Brief schreiben. Ja, das würde sie tun. Sicher würde er sie suchen kommen. Er war ein so liebevoller Mann, auf Brad konnte man sich immer verlassen, selbst wenn die ganze Welt zur Hölle fuhr. Was würde er denken, wenn er feststellte, dass sie nicht hier war? Fest entschlossen schlich Lila sich an den kleinen Schreibtisch vor dem Fenster und wühlte einen Bleistift und ein Notizblatt aus der Schublade. So, wie sollte sie es in Worte fassen? Ich gehe fort. Ich weiß nicht genau, wohin. Warte auf mich, mein Schatz. Ich liebe dich. Eva wird bald hier sein. Schlicht und klar, elegant das Wesentliche umfassend. Zufrieden faltete sie das Blatt auf ein Drittel zusammen, schob es in einen Umschlag, schrieb » Brad« darauf und stellte ihn aufrecht auf den Schreibtisch, wo er ihn am nächsten Morgen sehen würde.
Dann legte sie sich wieder hin. Quer durch das Zimmer beobachtete der Brief sie, ein leuchtend weißes Rechteck. Lila schloss die Augen und ließ die Hände zu der harten Wölbung ihres Bauches wandern. Ein Gefühl des Vollseins und dann, von innen, ein gasförmiges Zucken, dann noch eins und noch eins. Das Baby hatte einen Schluckauf. Hicks!, machte das winzige Baby. Lila schloss die Augen und ließ das Gefühl über sich hinwegfluten. In ihr, in dem Raum unter ihrem Herzen, wartete ein kleines Leben darauf, geboren zu werden, aber mehr noch: Sie, Eva, kam nach Hause. Der lange Tag holte sie ein, das wusste Lila. Ihre Gedanken ritten auf den Wellen des Schlafs wie ein Surfer, der auf dem gewölbten Kamm einer Welle paddelt. Noch einen Augenblick, und die Welle würde über sie hinwegbrechen und sie begraben. Unter ihren Fingerspitzen war Eva ruhig geworden. Ich liebe dich, Eva, dachte Lila Kyle. Und damit schlief sie ein.
10
Es war fast zehn, als sie am Mile High Stadium ankamen. Auf der Fahrt in die Innenstadt geriet Danny in ein Labyrinth aus Barrikaden: Humvees, von Sandsäcken umgebene Maschinengewehrstellungen, sogar ein paar Panzer. Ein Dutzend Mal war er gezwungen, zurückzufahren und einen anderen Weg zu suchen, der dann auch versperrt war. Endlich, als die letzten Reste des Morgennebels verdunstet waren, fand er eine freie Durchfahrt unter dem Freeway und fuhr dann die Zufahrt zum Stadion hinauf.
Der Parkplatz war von einem Raster aus olivgrünen Zelten überzogen, die gespenstisch still in der Sonne standen. Sie waren von einem Ring von Fahrzeugen umgeben, Personenwagen, Krankenwagen, Streifenwagen, und viele sahen halb zerschmettert aus: Die Fenster waren eingeschlagen, die Kotflügel von der Karosserie gerissen, die Türen aus den Angeln gebrochen. Danny brachte den Bus zum Stehen.
Sie stiegen aus, und der Verwesungsgestank war so stark, dass Danny würgen musste.
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