Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Dieser Lawrence Grey. Über den sie, wie ihr klar wurde, buchstäblich nichts wusste. Hausmeister war er. Sauber gemacht hatte er. Was hatte er sauber gemacht? David würde wahrscheinlich ausrasten, wenn er wüsste, dass sie einen Wildfremden ins Haus gelassen hatte. Sein Gesicht würde sie gern sehen. Vermutlich war es möglich, dass sie diesen Mann, diesen Lawrence Grey, falsch beurteilt hatte, aber das glaubte sie nicht. Sie war immer eine gute Menschenkennerin gewesen. Zugegeben, Lawrence hatte in der Küche ein paar beunruhigende Dinge gesagt– ein paar sehr beunruhigende Dinge. Dass der Strom weg war und die Menschen und der ganze Rest. (Tot, tot, alle waren tot.) Er hatte sie aufgeregt, ja. Aber der Fairness halber musste man sagen, er hatte im Kinderzimmer wunderbare Arbeit geleistet, und sie brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er das Herz am rechten Fleck hatte. Auch ein Lieblingsausdruck ihres Vaters. Was genau bedeutete es? Konnte das Herz denn auch anderswo sein? Daddy, ich bin Ärztin, hatte sie einmal lachend zu ihm gesagt. Ich kann dir zuverlässig versichern, das Herz ist da, wo es ist.
Wie anstrengend es war, einfach nur Ordnung im Kopf zu halten. Denn das musste man. Man musste die Dinge in einem bestimmten Licht betrachten und in keinem anderen. Was auch passieren mochte, man durfte den Blick nicht abwenden. Sonst konnte die Welt einen überrollen, sie konnte einen ertränken wie eine Brandungswelle, und wo wäre man dann? Das Haus an sich war nichts, was sie vermissen würde; insgeheim hasste sie es, seit sie das erste Mal einen Fuß hineingesetzt hatte: seine angeberischen Dimensionen, die zu vielen Zimmer, das gelbdunstige Licht. Es war kein bisschen so wie das, in dem Brad und sie in der Maribel Street gewohnt hatten– gemütlich, heimelig, voll von Dingen, die sie liebten. Aber wie hätte es das auch sein sollen? Was war ein Haus anderes als das Leben, das es enthielt? Diese pompöse Monstrosität, dieses Museum des Nichts. Natürlich war es Davids Idee gewesen. Das Haus Davids– war das nicht etwas aus der Bibel? Die Bibel war voll von Häusern: das Haus des Soundso, das Haus des Dies-und-das. Lila erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen auf dem Sofa zusammengekuschelt » Fröhliche Weihnachten, Charlie Brown« gesehen hatte– Snoopy liebte sie fast so sehr wie Peter Hase– und wie Linus, der Gescheite, Charlie Brown erklärte, was Weihnachten bedeutete. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Die Stadt Davids. Das Haus Davids. David, David, David.
Aber das Baby, dachte Lila. Sie hatte an das Baby zu denken. Nicht an das Haus, nicht an Geräusche von draußen (da waren Monster), nicht an David, der nicht nach Hause kam (der tote David), und nicht an den ganzen Rest. Wissenschaftliche Studien bewiesen, dass negative Emotionen sich auf den Fötus auswirkten. Das Baby dachte, wie man selbst dachte; es fühlte, was man fühlte, und wenn man die ganze Zeit Angst hatte, was dann? Diese beunruhigenden Dinge, die Lawrence in der Küche gesagt hatte– der Mann meinte es gut, und er wollte ihr und Eva (Eva?) nur helfen–, aber musste das, was er sagte, denn wirklich wahr sein? Es waren Theorien. Es war seine Meinung. Das sollte nicht heißen, sie sei anderer Meinung. Wahrscheinlich war es Zeit fortzugehen. Es war schrecklich still in der Gegend geworden. (Armer Roscoe.) Wenn Brad hier wäre, würde er das Gleiche sagen. Lila, geh!
Denn manchmal, oft, immer, fühlte es sich an, als sei das Baby in ihrem Bauch nicht jemand Neues, kein völlig neuer Mensch. Seit dem Tag, als sie mit dem kleinen Stäbchen zwischen den Schenkeln über der Toilette gehockt hatte, war dieser Gedanke in ihr gewachsen. Das Kind war keine neue Eva, keine andere Eva, keine Ersatz-Eva. Es war Eva, ihr eigenes kleines Mädchen, das wieder nach Hause gekommen war. Es war, als habe die Welt wieder ins rechte Gleis zurückgefunden und den schrecklichen, kosmischen Fehler ihres Todes ungeschehen gemacht.
Sie wollte Brad davon erzählen. Mehr als das: Schon sein Name weckte eine so machtvolle Sehnsucht, dass ihr die Tränen
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