Die zwoelf Gebote
Hochzeit hatte er noch einmal einen Traum. Er träumte, daß er das Gesicht Gottes sah. Es stand ihm so deutlich vor Augen, daß er sich noch nach dem Aufwachen an jede Einzelheit erinnern konnte. Die ganze Zeit hatte er überlegt, was er Anna als Hochzeitsgeschenk schicken könnte. Jetzt wußte er es.
„Das ist es!" rief er aus. „Ich schnitze eine Statue von Gott und schicke sie ihr!"
Daß er damit ein Gebot übertrat, davon hatte er überhaupt keine Ahnung. Aber weil er Anna nun einmal so sehr liebte, wäre es ihm auch egal gewesen, wenn er es gewußt hätte. Er fing die Gottesfigur also zu schnitzen an und arbeitete fieberhaft Tag und Nacht daran, damit sie auch wirklich noch rechtzeitig zur Hochzeit fertig wurde.
Tag für Tag wurde sie deutlicher und genauer und immer schöner. Es wurde eine der schönsten Figuren, die je gemacht wurden, weil Tony sie aus seiner großen Liebe für Anna schuf und die Figur deshalb voll von dieser seiner Liebe war. Als sie fertig war, betrachtete Tony sie und wußte, daß sie ein Meisterwerk war.
Heute nachmittag gebe ich sie an Anna auf, beschloß er.
Er war völlig erschöpft, weil er so intensiv an der Figur gearbeitet hatte.
Er sagte zu seinem Meister: „Ich gehe nach Hause und schlafe ein bißchen."
Fünf Minuten, nachdem er gegangen war, kam ein Mann in die Werkstätte, der von Tonys Arbeiten gehört hatte.
„Arbeitet bei Ihnen ein gewisser Tony?" erkundigte er sich.
„Ja."
„Könnte ich den mal sprechen?"
„Er ist gerade nicht da."
„Na gut, dann komme ich später noch einmal..." In diesem Augenblick brach der Mann, als er einen Blick in den Nebenraum warf, verwundert mitten im Satz ab. Er sah die Gottesfigur, ging hin und betrachtete sie eingehend.
„Das ist ja unglaublich!" sagte er. „Das ist die wundervollste Figur, die ich je gesehen habe."
Er wandte sich an den Meister. „Ich bin der Kurator des Metropolitan Museum . Ich kaufe diese Figur."
Der Meister schüttelte den Kopf. „Soviel ich weiß, ist sie nicht verkäuflich", sagte er. „Sie soll ein Geschenk für jemanden sein."
„Ich muß sie haben", sagte der Kurator. „Sie ist einfach perfekt für das Museum. Ich bezahle eine Million Dollar dafür." Der Meister riß die Augen auf. „Eine Million?" „Richtig."
Der Meister dachte nach. Er hatte zwar kein Recht, die Figur
zu verkaufen, aber er kannte die Geschichte von Tony und
Anna. Wenn Tony eine Million Dollar besaß, konnte er auch
seine geliebte Anna heiraten.
„Also gut, abgemacht", sagte er.
„Sehr schön."
Sie gaben sich die Hand.
„Ich komme gleich heute mit dem Scheck und hole die Figur
ab."
Der Meister dachte darüber nach, was er da getan hatte. Es war schon sehr eigenmächtig von ihm, aber er wußte auch, daß er das Richtige getan hatte. Er sorgte schon dafür, daß Tony seine Anna doch noch heiraten konnte.
Als der Mann vom Museum am Nachmittag wiederkam, hatte er den Scheck über eine Million Dollar bei sich. Er war mit zwei Männern gekommen, die ihm die Figur in ein Transportauto verladen halfen.
„Tony", sagte er, „darf sehr stolz darauf sein. Diese Figur macht ihn berühmt."
Als Tony am Nachmittag in die Werkstätte zurückkam, war das erste, was er bemerkte, daß die Figur nicht mehr da war. Er geriet in Panik.
„Wo ist die Figur?" fragte er. „Was ist mit ihr passiert?" „Ich habe sie verkauft", sagte der Meister.
„Was haben Sie? Das können Sie doch nicht machen! Das ist das Hochzeitsgeschenk für Anna!"
Der Meister sagte kopfschüttelnd. „Nein, ist es nicht. Du hast ein viel besseres Hochzeitsgeschenk für Anna." „Wieso, was?"
„Dich selber!" sagte der Meister. Und er reichte Tony ein Flugticket nach Italien. „Dies ist mein Geschenk für dich. Du fliegst heute noch heim und heiratest Anna."
„Sie sind verrückt", sagte Tony. „Ich bin doch nicht reich." „Bist du eben doch", sagte der Meister.
Und er gab Tony den Scheck über eine Million Dollar. „Du bist jetzt Millionär!"
Tony stand der Mund ungläubig offen. „Das ist ja wundervoll", stammelte er dann und umarmte den Meister. „Ich danke Ihnen. Ich werde Ihnen das nie vergessen!"
Jetzt konnten er und Anna heiraten und viele Kinder haben, die alle schön werden würden.
Am selben Abend flog Tony mit dem Flugzeug nach Rom. Nach seiner Ankunft dort am nächsten Morgen nahm er den nächsten Zug zu seinem kleinen Heimatdorf. Und dort ging er direkt zu Annas Haus.
„Was machst du denn hier?" fuhr ihn Annas Vater an.
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