Die zwoelf Gebote
Ich habe freudige Nachricht für dich." Anna runzelte die Stirn. Neuigkeiten, die ihren Vater freuten, waren für sie meistens wenig erfreulich. „Worum geht es, Vater?"
„Ich habe mit dem Herrn Bankdirektor gesprochen. Er will dich heiraten."
Anna sprang auf. „lieber sterbe ich!" rief sie. „Nie heirate ich ihn, nie. Ich werde keinen anderen als Tony heiraten!" Aber ihr Vater sagte: „Du tust, was man dir sagt, basta. Du heiratest den Bankdirektor."
Anna kam weinend zu Tony gelaufen. „Was ist los?" fragte Tony.
„Papa hat mir soeben mitgeteilt, daß ich jetzt den Bankdirektor heiraten muß. Wir sind heute verlobt worden."
Tony brach schier das Herz. Er wußte, daß Anna mit ihrem Vater nicht debattieren konnte, denn in jenen Tagen war es in diesem kleinen italienischen Dorf immer noch üblich, daß die Eltern die Heirat ihrer Kinder festlegten. Diese hatten bei der Auswahl ihrer Ehepartner nichts mitzureden.
Deshalb war Tony klar, daß er damit die einzige, die er je liebte und lieben würde, verlor. „Wann soll die Hochzeit sein?" fragte er.
„In einem Vierteljahr, Papa wollte es sogar noch eher, aber ich habe darauf bestanden, daß es drei Monate sein sollen, weil ich hoffte, daß du vielleicht bis dahin noch etwas unternehmen kannst, was Papas Sinn ändert."
„Was könnte ich denn machen?" sagte Tony. „Ich bin nur ein armer Holzschnitzer."
Er hielt Anna in den Armen. „Ich gehe fort von hier", sagte er. „Warum?"
„Weil ich es nicht aushalten könnte, hier zu leben und dich ständig als die, Frau eines anderen zu sehen. Ich werde irgendwohin weit weg von hier gehen und versuchen, dich zu vergessen."
Aber in seinem Herzen wußte er, daß er sie nie vergessen können würde.
Am nächsten Morgen packte Tony seine Sachen und verließ sein Dorf. Er reiste nach New York. Weil er nur sehr wenig Geld hatte, fuhr er auf einem Frachtschiff, einem schmutzigen alten Kasten, der drei Wochen brauchte, bis er in New York
ankam.
Das Meer war rauh und stürmisch, und alle wurden seekrank. Bis auf Tony, der viel zu intensiv damit beschäftigt war, an Anna zu denken. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Gedanke, daß sie diesen alten, fetten Bankdirektor heiratete, machte ihn unsagbar traurig.
Andererseits, dachte er, was hätte ich ihr auch schon bieten können? Ich habe kein Geld, um ihr irgend etwas zu kaufen. Ich kann ihr kein schönes Heim schaffen. Sie hat schon recht, wenn sie diesen Bankdirektor heiratet.
Als er in New York ankam, war er sehr überrascht darüber, wie groß diese Stadt war. Er war überhaupt noch nie in einer großen Stadt gewesen. Die Straßen waren voller Autos und Busse und Millionen herumhastender Menschen, und dann wurde ihm außerdem schnell klar, daß er ein Problem hatte. Er sprach kein einziges Wort Englisch. Er lief in den Straßen herum, ohne zu wissen, wohin und ohne mit irgend jemandem reden zu können.
Ein klein wenig Geld hatte er noch in der Tasche, und er war hungrig. Als er an einem Restaurant vorbeikam, ging er hinein und setzte sich an einen Tisch.
Eine Bedienung kam und fragte: „Was soll es denn sein?"
Tony starrte sie an. Er hatte keine Ahnung, was sie gesagt
hatte. Sie wiederholte es.
„Möchten Sie etwas bestellen?"
Tony war verlegen. Er stand auf und eilte hastig aus dem Restaurant davon.
Er lief weiter durch die Straßen, kam an einem weiteren Restaurant vorbei und ging wieder hinein. Diesmal kam ein Kellner.
„Guten Tag. Wir haben schöne Spezialitäten heute.
Leber mit Zwiebeln oder Schmorbraten oder Hackbraten. Der
Hackbraten ist unsere Hausspezialität. Kann ich sehr empfehlen."
Tony starrte ihn ebenso wortlos an, weil er auch hier kein einziges Wort verstand, und entfernte sich wiederum eiligst. Aber inzwischen war sein Hunger schon sehr groß. Was mache ich nur? fragte er sich. Ich habe zwar noch etwas Geld in der Tasche, aber ich werde verhungern.
Doch dann war er gerettet. Er kam zu einer Cafeteria. Das ist eine Gaststätte, wo man an einer Theke bestellen kann, was man will.
Er hatte einen Einfall. Er folgte einem Mann hinein und hielt sich immer eng hinter ihm. Der Mann ging an die Theke und sagte: „Apfelkuchen und Kaffee."
Tony hörte aufmerksam zu und beobachtete, wie die Bedienung hinter der Theke dem Mann ein Stück köstlich aussehenden Apfelkuchen und eine Tasse heißen Kaffee auf sein Tablett stellte. Der Mann ging weg. Die Bedienung wandte sich an Tony.
Tony lächelte und sagte: „Apfe-kuche unde Kaffee."
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