Diebe
Schleim zusammen mit einem Stück Zahn aus, dreht sich um und läuft, etwas schwankend, los in Richtung Bude.
Baz lehnt schwer atmend an der Wand und schaut Lucien an, als habe auch sie ihn noch nie vorher gesehen. Lucien, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet, der von kümmerlichen Resten und den paar Cent für sein Wasser lebt, Lucien mit all seinen Wunden und Geschwüren – dieser Lucien erscheint wie aus dem Nichts, um sie zu retten. Sie blinzelt. »So was hat noch nie jemand getan für mich. Demi nicht, keiner. Du hast mich gerettet, Lucien.« Nur halb nimmt sie knallende Geräusche im Hintergrund wahr, so als würden Türen zugeworfen oder Bratpfannendeckel gegeneinander geschlagen.
Lucien wendet sich ab, betrachtet die Hand, die den Schlag geführt hat. »Hab gesehn, dass er dir wehgetan hat.« Er bückt sich und hebt das Handy auf, das aus Miguels Tasche gefallen ist. »Er wird noch mal wiederkommen und das hier suchen, schätz ich.«
»Er wird noch mal wiederkommen und dich suchen, Lucien, und falls Fay ihn nicht aufhält, wird er jede Menge Ärger mitbringen.«
Lucien zuckt mit den Schultern. »Hey, kannste das brauchen, Baz? Hab keinen, den ich anrufen kann. Aber vielleicht willst du mal telefoniern.« Der Krach wird lauter. Er runzelt die Stirn.
Sie nimmt das Handy, ohne groß darüber nachzudenken. »Hast doch das Feuer gesehn. Ich weiß, dass du’s gesehn hast. Das ist Mamas Küche. Du musst gehn und gucken, ob alles in Ordnung ist mit ihr, Lucien.«
Er nickt, macht ein unglückliches Gesicht dazu. »Sie ist letzte Nacht zu mir gekommen. Hat gesagt, wenn ich mitkriege, dass irgendwas passiert bei ihrm Haus, soll ich nicht kommen und gucken, was los ist. Musste es ihr schwörn.« Er wischt sich mit dem Handgelenk über die Stirn. »Hab den Rauch gesehn und wollte grade los, egal, was sie sagt, Baz, und dann seid du und er genau in meinen Hof geplatzt. Vielleicht geh ich jetzt.« Er ist einen halben Meter größer als sie und so dünn, dass neben ihm alle anderen Barrio-Bewohner wie fette Wohlstandsbürger wirken. Er trägt ein altes, ausgeblichenes Hemd, das Mama ihm überlassen hat. Es ist sauber, besteht aber inzwischen mehr aus Löchern als aus Baumwolle. Von der Schulter bis hinunter zum Ellbogen verläuft ein Riss, durch den man eine seiner wunden Stellen sehen kann. »Meinst du, dass ich gehn sollte, Baz?«
Das durchdringende Geräusch einer Trillerpfeife ertönt und dann das plötzliche Krachen von Gewehrschüssen. Das rhythmische Knallen erstirbt und stattdessen hört man Rufe und Schreie.
Sie weiß, was das ist: der Beginn der Unruhen, auf die Eduardo hingearbeitet hat. Eduardos Krieg, und da möchte sie nicht hineingeraten. »Ja, musst du wohl, Lucien. Aber ich kann nicht. Der Lärm da hinten, das ist die Polizei. Die kommen ins Barrio. Ich muss sehn, dass ich wegkomme, sonst steck ich hier fest und dann kann keiner mehr Demi holn.« Sie gibt ihm einen sanften Stoß. »Los, Lucien.«
»Pass auf, Baz.«
»Klar, Lucien.«
Sie ist schon unterwegs, fängt an zu laufen, biegt in einen Durchgang, der in die Richtung des Agua-Platzes führt.
Der Durchgang weitet sich zu einer Gasse, teilt sich, krümmt sich nach links, und dann ertönt das Schlagen, Knallen und Rufen wieder. Pfeifen schrillen und plötzlich kommt eine Schar von Menschen auf sie zugerannt: eine junge Mutter mit ihrem Baby im Arm, eine ältere Frau, ein humpelnder Mann, hinter ihnen eine Reihe von Kindern. Alle rufen sie durcheinander, aufgeregt, verängstigt. Ein Junge hält sich ein zusammengeknülltes T-Shirt vors Auge. »Polizei!«
Sie hält den Jungen an, der verletzt zu sein scheint. »Komm ich hier durch?«
»Nein! Hier kommt keiner durch. Die nehmen alle hops. Wenn du da lang läufst, greifen dich die Bullen ab. Willste mal sehn, was sie mit mir gemacht ham?« Der kleine Junge nimmt sein Shirt aus dem Gesicht, sodass sie sein Auge sehen kann, das bereits anzuschwellen und sich rundherum zu verfärben beginnt. »Hat mich einer mit seinem Stock erwischt.« Er klingt fast stolz. »Jetzt lass mal meinen Arm los.«
»Was wolln sie?«
»He, lass mich los!« Das Kind windet sich plötzlich wie ein Aal und ist gleich darauf verschwunden.
Baz trabt zur nächsten Ecke und rauscht um ein Haar einem Uniformierten in den Rücken, der so breite Schultern hat, dass er praktisch die ganze Gasse blockiert. Er hat einen langen Stock in der Hand, dessen Spitze auf dem Boden ruht. Seine Aufmerksamkeit ist auf einen
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