Diebe
Vorgang zu seiner Rechten gerichtet. Rasch drückt sie sich rückwärts in einen Hauseingang.
Ein neuerliches Krachen ertönt, dann das Heulen und Prasseln von Kugeln, die von Mauern abprallen, und der Uniformierte tritt blitzschnell zurück. Eine Abteilung von Blauen mit Plexiglas-Schutzschilden stürmt an ihm vorbei, und dahinter noch mehr Blaue, diesmal mit kurzläufigen Gewehren. Einer bleibt stehen und feuert, es gibt ein dumpfes Donnern, dann noch mehr Geschrei und einen bitteren Geruch. Gas? Vielleicht wollen sie das Barrio mit Gas vollpumpen, alle und alles daraus vertreiben, einschließlich der Ratten.
Baz zieht sich zurück. Probiert einen anderen Weg. Auch der ist versperrt. Die ganze Gegend ist verrückt geworden, es ist, als hätte jemand das Barrio gepackt und in eine riesige Pfanne gekippt, um es kräftig durchzuschütteln und zu braten, und kein Wunder, dass Baz kaum mehr weiß, wo oben und unten ist, geschweige denn, wo es nach draußen geht.
Als Nächstes probiert sie die Dächer aus. Schafft es fast bis dreißig Meter an den Agua-Platz heran. Sie kann die Rückseiten der alten Gebäude am Südende des Platzes sehen, eine Wand, die das Barrio zum Fluss hin abgrenzt, aber weiter kommt sie nicht. Ein Polizist entdeckt sie, und eine Sekunde später knallt eine Kugel durch eine Ansammlung von Blechschornsteinen, neben die sie gerade getreten war. Sie lässt sich fallen und krabbelt auf dem Bauch, so schnell sie kann, von der Dachkante weg.
Etwas Hartes und Scharfes bohrt sich in ihren Oberschenkel, und für einen Moment glaubt sie, sie sei getroffen worden, vielleicht vom Splitter einer Kugel. Sie rollt sich auf die Seite, um nachzusehen.
Es ist nichts. Nicht mal ein Kratzer, nur der Schlüssel, den sie in ihre Hosentasche gestopft und in der Aufregung des ganzen Gerennes, Geschreis und Geschießes total vergessen hat. Sie zieht ihn heraus, in der Absicht, ihn in die Gesäßtasche zu stecken, und dabei fällt ein zweiter, kleinerer Schlüssel heraus und poltert aufs Dach. Demis Schlüssel, der fürs Motorrad. Und da kommt ihr eine Idee.
Beide Schlüssel fest in der rechten Hand, geht sie kurz in Kauerstellung, rennt dann in vollem Tempo auf den Rand des Daches zu und springt. Der Abstand zwischen den Häusern ist nicht so groß, daher erreicht sie mit Leichtigkeit die andere Seite und schwenkt, ohne merklich an Geschwindigkeit nachzulassen, nach rechts, springt noch einmal, taucht unter einer Wäscheleine hindurch, setzt über einen behelfsmäßigen Regenwasserspeicher hinweg. Zwischendurch bleibt sie vornübergebeugt stehen, um Atem zu schöpfen. Dann läuft sie weiter. Hinüber auf das nächste Dach und das übernächste, immer in die Richtung von Luciens Hof. Sie umkurvt eine hohe Mauer, einziges Überbleibsel einer alten Fabrik, die dort einst gestanden hat. Sie hat sich noch nie gefragt, was dort wohl produziert wurde – wozu auch? Inzwischen ist es »Moros Mauer«, der Ort, an dem immer mal wieder Leichen von Leuten gefunden werden, die es sich mit dem Boss des Barrio verscherzt haben.
Sie schaut sich um. Nichts. Schaut nach unten: zwei Männer in schnellem Laufschritt. Jung, von der Wäscherei kommend. Sie gleitet über den Rand, hängt für einen Moment in der Luft, lässt sich dann fallen und landet sicher auf den Füßen. »Geh nach Haus«, sagt einer der Männer. »Geh nach Haus, bevor dir jemand den Kopf vom Hals schießt.«
Das laute Wummern einer Explosion ertönt, gleich darauf riecht es überall nach brennendem Benzin. Ungefähr dreißig Meter entfernt, in Richtung Agua, steigt eine schwarze Wolke auf. Die Männer rennen weiter.
Nach Hause? Es gibt im Barrio kein Zuhause mehr für sie. Sie hofft, dass Lucien beim Brunnen ist. Vielleicht kann er helfen. Es ist nur eine kleine Hoffnung, aber sie hält sich daran fest, während sie durch die letzte Gasse zu seinem Hof sprintet.
24
Lucien sitzt auf seiner Bank im Schatten der Mauer. In einiger Entfernung kann Baz das Krachen von Schüssen und das Klirren von zerbrechendem Glas hören, aber beides scheint, jedenfalls vorerst, nicht näher zu kommen. Sie spritzt sich Wasser ins Gesicht und setzt sich dann zu ihm. Er rückt ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Lucien«, sagt sie, »verstehst du irgendwas von Motorrädern?«
»Bisschen.«
Etwas in seiner Stimme schreckt sie auf, veranlasst sie, sich ihm ganz zuzuwenden und ihn genauer anzusehen, ihre eigenen Sorgen erst einmal hintanzustellen. »Hast du Mama gefunden,
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