Diebe
Straßenjunge, keine Schuhe, schäbiges Unterhemd, überall Risse und Schweißflecke, aber beweglich war er: den Kopf zurückgelegt, Arme und Beine nur so am Wirbeln. Er umkurvte einen Träger, der einen vollbeladenen Gepäckwagen vor sich her schob, und sprang einfach über die Sperre auf einen der Bahnsteige. Vielleicht hoffte er, er könnte auf den Zug springen, der gerade abfuhr. Aber dafür war es zu spät, denn der Zug war schon halb aus dem Bahnhof heraus und nahm gerade Geschwindigkeit auf.
Drei Männer waren diesem Jungen auf den Fersen, und nicht einer von ihnen trug Uniform. Das war das erste Mal, dass Baz die gefürchtete APA in Aktion sah: Polizeibeamte in Zivil. Damals wusste sie noch nichts Näheres über sie, abgesehen von dem Namen. Heute kann sie sie eine Meile gegen den Wind riechen.
Als er erkannte, dass er den Zug nicht erreichen würde, sprang der Junge hinunter auf das Gleis. Die Männer zögerten keine Sekunde. Der Erste übersprang ebenfalls die Schranke und folgte ihm, während die anderen beiden den Weg absperrten und die Leute wegscheuchten. Es sollte niemand dem Geschehen zu nahe kommen, doch von ihrem Standort aus konnte Baz sehen, wie der Mann aufs Gleis hinunterhechtete. Der Junge war ihm vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte voraus. Nicht viel, aber mit ein bisschen Glück würde er seinen Verfolger abhängen können.
Doch dann sah Baz, dass der Mann gar nicht die Absicht hatte, ihm hinterherzulaufen: Er zog eine Pistole aus seiner locker sitzenden Jacke, zielte, drückte ab – und der Junge stürzte, die Arme weit ausgebreitet, vornüber zu Boden, als hätte ein Maultier ihn in den Rücken getreten. Man sah, dass er noch lebte, denn er bewegte sich, versuchte sich weiter über die Schienen zu schleppen. Der Mann ließ sich Zeit. Gemächlich spazierte er auf den Jungen zu, stand für einen Augenblick über ihm und sah ihn sich an, dann hob er die Pistole und schoss noch einmal. Danach rührte der Junge sich nicht mehr.
Sie weiß noch, dass sie sich innerlich wie tot fühlte und Demi sie fortziehen musste. »Als Dieb lebste auf eignes Risiko.« Demi versuchte sich tough zu geben, so wie Fay zu klingen, denn das war eine der ersten Lektionen, die Fay ihnen erteilt hatte. »Als Dieb lebst du auf eignes Risiko, also müsst ihr jede Sekunde nutzen, die ihr habt, und vorsichtig sein, hört ihr.« Das sagte sie immer zum Abschluss, und sie waren vorsichtig, denn sie hatten gesehen, wie Kinder verprügelt wurden, und sie wussten, dass üble Sachen passierten. Aber so übel wie das hier – das hatten sie noch nicht erlebt. Ein Junge wird einfach erschossen, am helllichten Tag, vor den Augen einer großen Menschenmenge, und keiner sagt etwas. Vielleicht konnte auch Demi das Geschehen nicht so einfach abschütteln, denn kurze Zeit später, als sie zusammen mit der Straßenbahn ins Barrio zurückfuhren, sagte er wie aus heiterem Himmel: »Wie einen Hund, Baz. So ham sie ihn abgeknallt – wie einen Hund, den keiner will.«
Und jetzt sitzen sie also, nachdem sie sich einen Überblick darüber verschafft haben, was der Norte-Bahnhof ihnen heute zu bieten hat, auf ihrer Bank, schlürfen ihre Getränke und suchen den Querbahnsteig nach Polizei ab, nach APA-Männern. Es sind immer junge Männer, die auf der Straße arbeiten, schlank und sehnig – Baz muss an hungrige Wölfe denken, wenn sie sie sieht. Allesamt haben sie dunkle Bartstoppeln im Gesicht und wie so ziemlich alle anderen Polizisten in der Stadt auch eine Sonnenbrille auf der Nase. Sie tragen Designerjeans, kein billiges, kopiertes Zeug vom Markt, und die leichten, legeren Jacken dienen dazu, die Pistole zu verdecken, die sie alle bei sich haben. Wenn man genau hinschaut, sieht man die Ausbeulung. Das Verräterischste an ihnen ist aber, dass sie nie etwas anderes tun, als zu gucken, immer nur die ganze Zeit Leute zu beobachten – genau wie sie und Demi, wenn man’s genau überlegt.
Heute ist nichts zu sehen von der APA und das ist gut so. Als der nächste Zug eintrifft, verlassen sie ihre Bank, Demi wird tätig und kurz darauf reicht er eine kleine Klammer mit bündelweise hineingeklemmten Geldscheinen an Baz weiter. Anschließend lassen sie sich zu einem anderen Verkaufsstand treiben, um auf den nächsten Zug zu warten. Dann das Gleiche noch einmal. Und auf einen weiteren Zug warten. »Aller guten Dinge sind drei«, sagt Demi. Baz hält nichts von solchen Sprüchen, aber sie vertraut Demi, also folgt sie ihm hinein in die
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