Diebe
Finger bekommen könnte, wäre es ihr Fahrschein zurück in die Stadt, viel schneller, als zu Fuß zu gehen, und sicherer, als per Anhalter zu fahren. Er kann Motorrad fahren, kein Problem. Er sieht sich im Graben nach irgendetwas um, das er gebrauchen kann – ein paar faustgroße Brocken Beton liegen bei der Barriere, ein paar Aststücke von der Akazie, aber nichts, was als Knüppel dienen könnte. Baz mag sich einfach nicht rühren. Sie denkt nicht an das Motorrad, denkt nicht an den Wachmann. Sie will nur fühlen, wie die Sonne sie verbrennt. Sie muss nicht zum Zaun hinüberblicken, um Raouls zusammengesunkenen Körper vor sich zu sehen.
»Was macht der Fettsack da? Ist er krank? Tot?« Die Stimme des Wachmannes ist seltsam hoch. Passt nicht zu seiner Ausrüstung.
Sie können die Antwort nicht hören, aber jemand muss eine gegeben haben, wahrscheinlich das Mädchen, das sein Versprechen gehalten hat und zu Raoul zurückgekommen ist. »Bring ihn zum Tor«, sagt der Wachmann. »Ihr wisst, was ihr mit kranken Leuten tun sollt. Lass ihn da jedenfalls nicht liegen, klar? He, sag mal – ist das der, der Raoul genannt wird?«
Baz schiebt sich hoch zur Grabenkante, legt sich neben Demi. Der junge Wachmann steht ein gutes Stück vom Zaun entfernt, die Schutzbrille hat er sich in die Stirn geschoben, das Gewehr hält er in beiden Händen, den Finger am Abzug. Wovor, fragt sich Baz, hat er denn solche Angst, dieser kleine Macho? Was stellt er sich vor? Dass die Kinder durch den Zaun gestürmt kommen und ihn beißen oder was? Oder vielleicht glaubt er ja, dass er die Krankheit, die dort drinnen herrscht, einfach abknallen kann.
»Ganz bestimmt? Keiner hier langgekommen? Zwei Kids vielleicht?«
Der Wachmann tritt einige Schritte zurück, schafft noch mehr Abstand zwischen sich und den Gestalten, die, wie Baz jetzt erkennen kann, zu Raoul heruntergekommen sind und ihn in eine sitzende Position hochziehen. Der Wachmann dreht dem Zaun den Rücken zu und späht in die Richtung, in der Baz und Demi versteckt liegen. Einen Moment lang verharrt er regungslos. »Komm ruhig hierher, Señor, komm her, dann nehm ich mir dein Motorrad«, murmelt Demi.
»Motorrad ist nicht das Gleiche wie ’n Portmonee, Demi.«
»Seine Maschine hat hinten ’ne schön große Werkzeugtasche. Finden wir vielleicht was für den Zaun. Was zum Schneiden.«
Sie sieht ihn überrascht an. »Was hast du vor?«
»Was ist, wenn du aufstehst, Baz, und dann diesen Graben runterrennst? Was wird er wohl tun?«
»Mir auf seiner Maschine hinterherjagen.«
Demi hebt zwei der Betonbrocken auf und wiegt sie in der Hand. »Das schätz ich auch. Wolln wir’s probieren? Uns ein Motorrad holn, vielleicht durch den Zaun kommen und alles.«
Es ist riskant, aber sie und Demi gehen ständig Risiken ein. »Glaubst du, dass er das Gewehr benutzt?«
»Nein. Er will uns fangen – was soll er mit ’ner toten Diebin wie dir anfangen?« Er grinst.
»Biste bereit?«
Sie nickt. »Jetzt?«
»Los!«
Sie holt einmal tief Luft, dann springt sie auf. Eine volle Sekunde lang steht sie dem Mann zugewandt, wie ein Reh, das vom Scheinwerferlicht gelähmt ist. Dann rennt sie los, nicht unten im Graben, sondern oben am Rand, dort geht es schneller.
»He! Du da! Halt!«
Demi hält den Atem an, als der Wachmann das Gewehr hochreißt, anlegt und – scheinbar eine Ewigkeit, in Wirklichkeit jedoch nur einen kurzen Augenblick – zielt. Dann, nachdem er’s sich anders überlegt hat, schwingt er sich mit einem lauten Fluch auf sein Motorrad, lässt es anspringen und jagt, das Vorderrad hoch in der Luft, das Hinterrad über den holprigen Untergrund hüpfend, hinter Baz her.
Baz läuft mit hoher Geschwindigkeit, schlägt sicherheitshalber kleine Haken nach links und rechts, hält sich aber immer am Rand des Grabens, bereit, jederzeit hineinzuspringen.
Das Motorrad ist fast bei ihm angelangt, als Demi aufspringt, den linken Arm auf den Mann gerichtet, mit dem rechten weit ausholend, das Betonstück fest in der Hand. Erschrocken reißt der Mann den Lenker nach rechts, und das Hinterrad rutscht herum, schleudert eine ganze Wolke von Sand und Erdbrocken auf Demi. Doch für den Bruchteil einer Sekunde bewegt Demi sich nicht, er ist wie aus Stein, die Augen zusammengekniffen, dann aber fliegt sein Wurfgeschoss, nicht auf den Mann gezielt, sondern auf das Vorderrad, und er kann nur beten, dass es nicht einfach vom Reifen abprallt. Es muss das Rad voll treffen, es zur Seite schlagen.
Es
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