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Diebe

Diebe

Titel: Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Gatti
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Stimme ist spöttisch. »Ich komm zurück, wenn du gehst.«
    Dann entfernt auch sie sich.
    »Wie lange noch, bis das Motorrad hier wieder vorbeikommt?«, ruft Baz, die Augen auf Raoul gerichtet, der ein einziges Häufchen Elend ist.
    »Kann jederzeit kommen.«
    Baz wartet kurz ab, lauscht auf das verräterische Motorengeheul, aber es ist nichts zu hören außer den Schreien der kreisenden Vögel und dem regelmäßigen Stampfen irgendeiner Maschine drüben beim Betriebshof. Sie beugt sich vor, langt durch den Draht, um Raoul zu berühren. »Raoul? Raoul! Ich bin’s. Baz. Raoul, wir kommen dich holen! Was ist passiert?«
    Der Junge hebt leicht den Kopf, und seine Augen scheinen sich auf sie zu richten, blinzeln gegen das Licht an. Baz hebt eine Hand, um sein Gesicht vor der Sonne abzuschirmen. »Baz.« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen. »Ich bin so schlapp, Baz. Könnte nicht mal ’nem Blinden das Portmonee aus der Tasche ziehen.« Er versucht zu lachen, muss aber stattdessen husten und spuckt leuchtend roten Blutschleim aus, die einzige leuchtende Farbe auf dem ganzen Berg.
    Nur zwei Tage und schon in diesem Zustand! »Was ist mit dir passiert, Raoul? Wie bist du so krank geworden?« Er antwortet nicht. »Wir sind da, um dich zu holn«, wiederholt sie hilflos. Tränen steigen ihr in die Augen. Und Baz weint nie. Niemals. Wo ist Demi? Wenn er nur hier wäre – zusammen könnten sie etwas tun.
    »Fay wollt mich nicht mehr, Baz. Hat mich an den Mann weggegeben ... Ham mich geschlagen, als ich ...« Er hustet erneut, bringt einen weiteren roten Klumpen hervor.
    »Schh«, sagt sie.
    Seine Augen werden stumpf, der Kopf sinkt auf die Brust, sein Körper sackt gegen den Zaun.
    Sie berührt sein feuchtes Haar, sein glühendes Gesicht.
    Und so trifft Demi sie kurz darauf an: ihren Kopf dicht an Raouls geschmiegt, ihre Hand um seinen Nacken gelegt, der Drahtzaun zwischen ihnen.
    Demi ist aufgeregt, er hüpft auf seinen Zehen, hat den Kopf ständig in Bewegung, nimmt alles in sich auf. »Du hattest recht mit dem Fahrer. Der hat uns verraten. Die durchsuchen die ganze Gegend nach uns. Wir müssen los, Baz, weg von hier.« Sein Blick bleibt an Raoul haften. »Steht schlimm um ihn, ja?«
    »Wir können ihn nicht hierlassen«, sagt sie.
    »Der schafft es nirgends mehr hin, Baz. Hat er überhaupt noch ’n Puls?«
    »Ich weiß nicht.« Mit schwacher Stimme gesprochen.
    »Lass mal sehn.«
    Er bückt sich neben sie, schiebt ihre Hand weg und drückt seine Finger seitlich gegen Raouls Hals. Nach einer Weile sieht er sie kopfschüttelnd an. »Fast gar nichts.«
    »Wir können ihn nicht hier liegen lassen, Demi! Das können wir einfach nicht tun!«
    Er blinzelt hinauf zum Berg, will ihr nicht antworten. Die Sonne ist ein Stück herumgewandert und scheint ihnen fast direkt in die Augen. Drei Gestalten tauchen auf der Kuppe auf, schwarze Umrisse, wie Krähen oder Geier. Demi hat im Fernsehen mal was über Geier gesehen und weiß, wie sie leben. Eine Ratte huscht über Raouls Bein. Er rührt sich nicht. Demi schlägt gegen den Draht, doch die Ratte lässt sich nicht stören. Sie hat glänzendes Fell, sieht sehr gesund aus. Schließlich verschwindet sie in einem Spalt unter einem abgefahrenen Autoreifen.
    »Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern, Baz. Komm. Er kriegt nichts mehr mit. Komm, lass ihn liegen. Er hat keine Schmerzen.«
    Irgendwo vom Betriebshof her ertönt eine Hupe, so laut und durchdringend, dass eine Schar von im Abfall pickenden Möwen aufgescheucht wird. Gleich darauf hört Baz wieder das Aufheulen des Motorrads. Lauter und höher jetzt, offenbar fährt es schneller. Keine Routinerunde diesmal.
    Sie lässt sich von Demi bei der Hand nehmen, hochziehen und eilig vom Zaun wegführen. Keiner von ihnen blickt zurück. Demi, weil er nichts mehr sehen will , Baz, weil sie’s nicht mehr aushält.

15
    Demi geht in Kauerstellung, Baz lehnt sich gegen die schräge Grabenwand und blickt in den Himmel. Die Sonne scheint grell und unbarmherzig.
    Sie sollten sehen, dass sie wegkommen.
    Sie hören, dass das Motorrad anhält, der Motor wird abgestellt, die Stimme des Mannes ruft: »Eh, Junge, verschwinde da.« Und dann jähe Stille.
    Zehn, fünfzehn Schritte, weiter sind sie nicht weg. Falls der Wachmann misstrauisch ist und beschließt, sich mal umzuschauen, würde er sie ganz schnell finden, aber noch wollen sie sich nicht von der Stelle rühren. Demi lässt kein Auge von dem Motorrad des Mannes. Wenn er das in die

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