Diebe
Jungen, der schon weiter oben ist, äfft sie nach: »Bidde, bidde.«
Es ist ihnen egal. Wie auch nicht? Baz’ Finger klammern sich um den rostigen Draht. »Bitte«, fleht sie. Das Mädchen beachtet sie nicht. Warum erkennt sie nicht, wie viel das hier bedeutet, wie viel Baz bereit wäre zu geben? Plötzlich rüttelt sie am Draht. »Bring mich zu ihm«, ruft sie. »Bitte. Wenn du weißt, wo er ist, bring mich zu ihm. Ich kletter über den Zaun. Irgendwie komm ich rein.«
Das Mädchen bleibt stehen. Eine Ratte schnüffelt an ihrem Fuß, aber sie achtet nicht darauf, ihre Aufmerksamkeit ist ganz und gar auf Baz gerichtet, und Baz, die bisher eigentlich nur die Blasen auf der Stirn des Mädchens bemerkt hat, sieht jetzt auch ihre Augen, die wie schwarze Tümpel wirken. Tümpel voller Schmerz.
Dann, von irgendwo weiter hinten, hört Baz das Aufheulen eines Motorrads.
»Lauf weg! Du musst dich verstecken. Wenn sie dich fangen, geht’s dir wie uns. Lauf schnell!«, sagt das Mädchen. »Die fahrn hier immer rum, diese Männer, gucken, dass es keinen Ausbruch gibt. Gucken, ob jemand weglaufen will. Versteck dich. Sofort.«
»Aber Raoul – was ist mit ihm? Kann ich nicht reinkommen?«
»Nein!« Ihre Stimme ist plötzlich scharf. »Versteck dich und dann bring ich den Jungen.«
»Wie lange?«
»Ich bring ihn«, sagt sie schroff. »Du wartest.«
Das Geräusch des Motorrads wird lauter, ein wütendes Brummen.
Das Mädchen dreht sich abrupt um und klettert, eilig jetzt, den Hang hoch, während Baz zum Graben zurücksprintet, darin verschwindet und dann vorsichtig ihren Kopf hochschiebt, um durch die trockenen, scharfkantigen Gräser nach draußen zu spähen.
Kurz darauf erscheint das Motorrad auf der Bildfläche, es rollt langsam über den holprigen Weg. Nur ein Fahrer: schwarzes T-Shirt, keiner von den geleckten Anzugträgern. Er trägt eine Schutzbrille gegen den Sand, so groß, dass sie fast sein ganzes Gesicht bedeckt, und um den Rücken hat er ein Gewehr geschnallt. Sein Kopf ist zum Zaun hin gewandt, nicht zum Feld. Er hält also nicht nach ihr und Demi Ausschau. Das Motorrad zuckelt weiter, nimmt Geschwindigkeit auf, ist um die Ecke und dann außer Sicht.
Eine Bewegung auf der Kuppe des Berges erregt ihre Aufmerksamkeit. Ein, zwei, drei Gestalten sind auf dem Weg zurück zum Zaun. Sie klettert aus dem Graben und läuft ihnen entgegen. Zwei von ihnen halten den Dritten, seine Arme um ihre Schultern gelegt, der Kopf herabhängend, sodass sie das Gesicht nicht sehen kann. Die zwei haben sichtlich Mühe, müssen die Person in ihrer Mitte halb tragen. Und diese ist ganz anders gekleidet als sie, nicht in schäbige Lumpen, sondern eher wie Baz, wie Demi, nur dass das T-Shirt von der Schulter bis zum Bauch eingerissen ist und braune Flecken hat.
Einen halben Meter vor dem Zaun bleiben sie stehen. »Ist das der Junge?« Es ist natürlich das Mädchen von eben, aber sie hat ihr Gesicht wieder eingewickelt, sodass nur ihre Augen zu sehen sind. Der andere Helfer ist der Junge mit der heiseren Stimme, dem Baz ihre Uhr geschenkt hat. Er würdigt Baz keines Blickes, nimmt einfach nur den Arm des Jungen von seiner Schulter und klettert, dem Mädchen die ganze Last allein überlassend, sofort wieder zurück. Der Junge stöhnt leise und hebt den Kopf; sein Gesicht ist fiebrig, schweißbedeckt, die Augen stumpf und blicklos, aber ja, es ist Raoul. Seine Lippen sind geschwollen und schorfig, schwarz von getrocknetem Blut, und auch an seinem rechten Ohr klebt Blut. Baz erinnert sich daran, was Señor Moro gesagt hat: »So’n Junge ist ’n guter Arbeiter, kräftig ... gut für den Berg.« Armer Raoul, jetzt ist er vielleicht für gar nichts mehr gut. Genau das ist es, was Lucien ihr erzählt hat: Man kann Pech haben, irgendwas passiert, man stürzt, zieht sich eine böse Schnittwunde zu, und ganz schnell wird man krank.
»Ja!«, sagt sie zu dem Mädchen. »Danke. Danke.«
»Er hat versucht übers Tor zu klettern«, sagt das Mädchen. »Gleich die erste Nacht. Als sie ihn runtergezogen ham, hat er den Männern erzählt, dass er noch in der Stadt zu tun hat. Ham sie alle gelacht. Und dann ham sie ihn verprügelt.« Das Mädchen lässt Raoul langsam auf den Boden sinken. »Ich komm zurück«, sagt sie, »wenn du gehst.«
»Aber wir nehmen ihn mit, Demi und ich.«
»Demi?«, sagt sie. »Ist Demi jemand, der durch Draht spaziern kann, um diesen Jungen zu holn? Vielleicht kann er ja zaubern – und uns alle hier wegholn.« Ihre
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