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Diebe

Diebe

Titel: Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Gatti
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verhüllten Gesichtern mehr, als dass sie sie sieht. Was mögen sie denken, wenn da plötzlich eine Gestalt aus dem Graben gekrochen kommt und sie anstarrt, als wären sie Tiere im Zoo? Baz’ Nacken ist schon ganz wund von der Sonne. Sie hält den Blick auf die Leute hinter dem Zaun gerichtet, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper sie drängt, sich umzudrehen und zu kontrollieren, ob nicht irgendein Schattenmann über das Feld gelaufen kommt. Es ist zu spät, sich umzudrehen, zu spät, um wegzulaufen.
    Sie hebt eine Hand. Niemand rührt sich. Sie tritt über einen holprigen Weg, der, gerade breit genug für ein Motorrad, direkt entlang des Zauns verläuft. Sie registriert die Reifenabdrücke, doch ihre Aufmerksamkeit gilt den Leuten. »Ich such nach einem Jungen«, sagt sie in die Runde.
    Jemand kichert und hustet. Das Husten steigert sich zu einem trockenen Würgen und ein Stück zur Linken sinkt eine Gestalt auf die Knie. Niemand schenkt ihr Beachtung. Baz packt den Draht mit der rechten Hand. »Ein Junge, von den Männern hergebracht, vielleicht vor zwei Tagen. Den Männern im Anzug.«
    »Moro«, sagt eine der Gestalten und spuckt aus. Das ist sicherlich ein gutes Zeichen. Sie werden ihr helfen. Sie müssen ihr einfach helfen.
    Sie beginnen schlurfend näher zu kommen, die Älteren, wie sie bemerkt, mit vorsichtigen Bewegungen, die Kinder schneller, manchmal stolpernd, die Füße können plötzlich einsacken, und alle schleppen sie einen Sack hinter sich her. Einer stürzt und schreit auf, rafft sich wieder auf und stakst, sich den Arm haltend, weiter den Hang hinunter auf Baz zu. Beim Gehen wühlen sie den Boden auf, dadurch verstärkt sich der Geruch, die Luft ist ranzig von Gasen. Baz bedeckt ihren Mund mit dem Unterarm. Ratten huschen aus dem Abfall.
    Es sind die Kinder, die bis an den Zaun treten, vier von ihnen, mit wässrigen Augen, die Baz anstarren, als sei sie eine vielversprechende Mahlzeit. Die Älteren bleiben etwas zurück, auf halber Höhe des Hangs. Einer hat einen Stock in der Hand, den er erhebt und in Baz’ Richtung schüttelt. Sie weiß nicht, ob es eine Warnung sein soll, ein Willkommensgruß oder ein Versuch, sie in einer Rauchwolke verschwinden zu lassen. Er erinnert sie an einen sehr, sehr alten Mann im chinesischen Viertel des Barrio, mit einer Haut so trocken wie Papier, von dem die Leute sagen, dass er zaubern könne.
    »Hast ’ne Uhr.« Ein Junge mit heiserer Stimme starrt ihren Arm an.
    »Weiche Haut«, sagt eine andere Stimme, die eines Mädchens. Der ihr Gesicht einhüllende Lumpen ist etwas verrutscht, und Baz versucht, nicht auf die entzündeten Blasen zu starren, die ihre Stirn bedecken.
    »Willste meine Uhr?« Sie streift sie sich vom Handgelenk. Sie ist billig, aus Plastik, aber sie funktioniert.
    Der erste Sprecher streckt seine Hand aus. Er hat den kleinen Finger verloren, die Wunde ist unbehandelt und trieft. Sie lässt die Uhr fallen und zieht hastig ihre Hand zurück. Der Anflug eines Lächelns flackert über sein Gesicht. »Hast Angst, du kriegst die Krätze, eh, kleines, hübsches Ding?« Dann betrachtet er die Uhr und stößt einen der anderen, der zu nahe herangekommen ist, beiseite. »Hast ’n Handy?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    Das Mädchen hat Baz nicht einen Moment lang aus den Augen gelassen. »Wer ist der Junge, den du suchst?«
    »Raoul. Bisschen dicker. Ungefähr dreizehn. Lacht gern.« Dieser Ort macht nicht den Eindruck, als würde man hier irgendeinen Grund zum Lachen finden.
    »Lachen?«, sagt sie. »Vor zwei Tagen ham sie ’n Jungen gebracht, der versucht hat zu lachen, aber der ist jetzt krank.«
    »Wo ist er?«
    Das Mädchen zuckt mit den Schultern. Die Älteren haben inzwischen das Interesse verloren, und auch die Jungen, die nach unten gekommen sind, um Baz von Nahem zu sehen, machen sich langsam wieder auf den Rückweg den steilen und wackeligen Hang hinauf, bleiben hier und da stehen, um ein Stück Gummi oder einen Stofffetzen unter die Lupe zu nehmen, und manchmal fügen sie ihr Fundstück auch der Sammlung in ihrem Sack hinzu.
    »Bitte, ihr dürft nicht gehen«, fleht Baz. »Helft mir.«
    »Warum?« Das Mädchen dreht sich um. »Du kannst mir ja nichts tun.«
    Für einen Moment glaubt Baz, dass sie sich verhört hat. »Ich will niemandem was tun.«
    Das Mädchen lacht bitter. »Du bist da draußen. Willste hier reinkommen, mein Leben habn?« Sie wartet die Antwort nicht ab, beginnt sich von Baz zu entfernen.
    »Bitte«, ruft Baz.
    Einer der

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