Diebin der Zeit
lichterloh, aber Landru stand immer noch wie angewurzelt da und schaute zu, wie die Berserker unter den Wehrlosen wüteten. Er hatte nicht jeden Einzelnen hypnotisiert, sondern den Troß der Schausteller durch Massensuggestion gefügig gemacht.
Seine Hütermagie war in jeden Wagen gedrungen und hatte Land-rus Willen auf den Willen der jeweiligen Person aufgepfropft.
Landru schüttelte die Erstarrung ab und änderte kurzerhand das Programm, das er in den Fahrensleuten verankert hatte. Er befahl ihnen, Widerstand zu leisten. Gleichzeitig begann er seinen Willen auf die Dörfler auszudehnen.
Aber dies ließ sich nicht von einem Augenblick auf den nächsten vollbringen, und so setzte sich die Gewalt zunächst fast ungehemmt fort.
Die Brände dehnten sich aus, sprangen von einem Wagen zum anderen über. Knisternde Flammen und Funkenflug erhellten die Nacht. Der Wind trug Geschrei und die typischen Gerüche einer Brandschatzung zu Landru, der in diesem Moment den mutmaßlichen Anführer der Entfesselten entdeckte.
Einen Pfaffen!
Er wollte sich ihm zuwenden, als Eucharius ihn durch sein jähes Auftauchen ablenkte. Sein Diener wankte ihm trotz brennender Kleider ohne einen einzigen Klagelaut aus der aufgerührten Nacht entgegen!
Landru handelte gedankenschnell und entsandte einen magischen Windstoß, der - anders als ein natürlicher - die Flammen augenblicklich erstickte.
Wenig später stand der ehemalige Kelchhüter der Zwillingskreatur gegenüber und erfuhr in aller Kürze von dem Unglaublichen, das ihm widerfahren war.
»Lydia?« echote Landru/Racoon, umflirrt vom Lärm des immer erbitterterer geführten Kampfes. »Eine Frau, die Vampire wohl kennt, aber nicht fürchtet, und die mit Dienerwesen wie mit lästigem Ge- schmeiß verfährt ...?« Er machte aus seiner Verblüffung keinen Hehl. In diesem Augenblick wendete sich im Lager das Blatt. Und schuld daran war - Lydia .
*
Saquefort war von den wehrhaftesten seiner Bewohner entblößt. Lydia hatte sie auf ihrem Weg ins Dorf losmarschieren sehen. Von den aufgewiegelten Männern jedoch hatte keiner sie bemerkt ...
Die Schlupflöcher der Nacht waren hilfreich und vertraut geworden in all den Jahren des Aufenthalts in der Fremde. Heimisch war sie nirgends geworden, an keinem Platz der Welt, und inzwischen war sie sicher, daß sich ein Gefühl von Heimat auch nie bei ihr einstellen würde.
Sie hatte sich damit arrangiert.
Zwangsläufig.
Nahezu lautlos glitt sie durch die stockfinstere Nacht. Nach der Entladung, die ihr Eucharius zumindest vorübergehend vom Halse geschafft hatte, leuchtete ihr Körper nicht mehr ganz so verräterisch, eher wie das unruhige Feuer in einem jahrmillionenalten Diamanten. Dennoch hatte sie die Haut mit schwarzem Tuch verhüllt; selbst das Gesicht lag, bis auf die Augenpartie, unter einem dämpfenden Schleier.
Dieses kalt phosphoreszierende Licht war nur das sichtbare Symptom eines weit komplizierteren und unerklärlicheren Prozesses, der Lydia zum Diebstahl zwang.
Auch jetzt wieder.
Seit der Vampir die Wagen der Wanderschau von Paris fortgelotst und sich das Gros der Schausteller unterworfen hatte, war Lydia noch nicht wieder nächtens unterwegs gewesen. Sie hatte sich erst einen Eindruck von dessen Stärke verschaffen wollen. Aber gerade dies war zu einem schwierigeren Unterfangen geworden als gedacht. Jener Angehörige der Alten Rasse schien ein Außenseiter und Einzelgänger zu sein - verwunderlich genug. Dennoch war Lydia nach Eucharius' Besuch zu dem Entschluß gelangt, die Konfrontation mit dem Blutsauger zu suchen. Er machte ihr das Revier streitig, und das würde sie sich nicht länger gefallen lassen, zumal sie sich nicht noch weiter von Paris entfernen, sondern dorthin zurückkehren wollte .
Aber zunächst wollte sie Kräfte schöpfen, denen ihr Gegner - die Vergangenheit hatte es bewiesen - nicht gewachsen sein würde!
Noch schneller glitt sie durch die Nacht, auf die Häuser und das darin befindliche Leben zu. Eine Diebin ohne Hemmungen; eine Diebin, die den Bewohnern von Saquefort das kostbarste ihrer Güter stehlen wollte.
Denn was war dem Menschen mehr wert als die Spanne Zeit, die er von seinem Schöpfer zum Geschenk erhielt und die ihm doch wie feiner Sand zwischen den Fingern zerrann .?
*
Goulue wurde von einem Zittern durchlaufen, sein Herz pochte hart, und seine beiden Hände krampften sich um die Bügel der Holzkrücken, auf die er gestützt stand - in sicherem Abstand des von ihm angezettelten
Weitere Kostenlose Bücher