Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
diese Außenstehenden ihr ihre kostbaren Minuten mit Morrie raubten.
»… ein Gefühl von Zielstrebigkeit«, wiederholte sie. »Ja. Das ist etwas Gutes, weißt du.«
»Ich hoffe es«, sagte ich.
Ich half ihr, das Essen in den Eisschrank zu stellen. Auf dem Küchentresen lagen alle möglichen Briefe, Botschaften, Informationsbroschüren, medizinische Anweisungen. Auf dem Tisch standen mehr Tablettenröhrchen als je zuvor – Selestone gegen sein Asthma, Aktivan zum Schlafen, Naproxen gegen Infektionen – zusammen mit einem pulverisierten Milchmixgetränk und Abführmitteln. Wir hörten, wie sich irgendwo am anderen Ende des Flurs eine Tür öffnete.
»Vielleicht kannst du jetzt mit ihm sprechen … laß mich mal nachschauen.«
Charlotte warf noch einmal einen Blick auf meine Lebensmittel, und plötzlich schämte ich mich. So viele Erinnerungen an Dinge, die Morrie nie mehr genießen würde.
Die Begleiterscheinungen seiner Krankheit wurden immer schlimmer, und als ich mich schließlich zu Morrie setzte, hustete er mehr als gewöhnlich, ein trockener, rauher Husten, der seinen Brustkorb erschütterte und bewirkte, daß sein Kopf nach vorn ruckte. Nach einem sehr heftigen Hustenanfall hielt er inne, schloß die Augen und atmete tief ein. Ich saß eine Weile ruhig neben ihm, da ich annahm, er müsse sich von der Anstrengung erholen.
»Ist das Tonband an?« fragte er plötzlich mit noch immer geschlossenen Augen.
»Ja, ja«, antwortete ich rasch und drückte die Tasten herunter.
»Was ich jetzt mache«, fuhr er fort, die Augen noch immer geschlossen, »ist, mich von der Erfahrung zu distanzieren.«
»Dich distanzieren?«
»Ja. Mich distanzieren. Und dies ist wichtig – nicht nur für jemanden wie mich, der stirbt, sondern für jemanden wie dich, der völlig gesund ist. Lerne es, dich zu distanzieren.«
Er öffnete die Augen. Er atmete aus. »Weißt du, was die Buddhisten sagen? Halte an nichts fest, weil alles vergänglich ist.«
»Aber hör mal«, sagte ich. »Redest du nicht ständig davon,
das Leben voll auszukosten? All die guten Gefühle, all die schlechten?«
»Ja.«
»Tja, und wie soll das gehen, wenn du distanziert bist?«
»Ah. Du denkst noch, Mitch. Aber sich distanzieren bedeutet nicht, daß du die Erfahrung nicht durchleben sollst. Im Gegenteil, du erlaubst es dir, die Erfahrung voll und ganz auszuleben. Auf diese Weise bist du fähig, sie loszulassen.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Nimm irgendein Gefühl – Liebe zu einer Frau oder Trauer um einen Menschen, den du liebst, oder das, was ich gerade durchmache: Furcht und Schmerz durch eine tödliche Krankheit. Wenn du die Gefühle verdrängst – wenn du es dir nicht gestattest, sie wirklich zu fühlen –, dann kannst du nie an den Punkt kommen, dich von ihnen zu distanzieren, denn du bist zu sehr damit beschäftigt, dich zu fürchten. Du fürchtest dich vor dem Schmerz, du fürchtest dich vor dem Kummer. Du fürchtest dich vor der Verletzlichkeit, die es mit sich bringt, jemanden zu lieben.
Indem du dich in diese Gefühle hineinbegibst, indem du dir gestattest, wirklich in sie einzutauchen, ganz tief, und sie über deinen Kopf hinwegspülen zu lassen, spürst du sie voll und ganz. Du weißt, was Schmerz ist. Du weißt, was Liebe ist. Du weißt, was Kummer ist. Und nur dann kannst du sagen: ›Gut. Ich habe dieses Gefühl voll durchlebt. Ich erkenne es wieder. Jetzt muß ich mich einen Moment lang von ihm distanzieren.‹«
Morrie stockte und sah mich prüfend an, vielleicht um sicherzugehen, daß ich ihn richtig verstand.
»Ich weiß, du denkst jetzt, das sei nur dann sinnvoll, wenn man stirbt«, sagte er, »aber es ist genau so, wie ich es dir immer wieder sage. Wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.«
Morrie redete über die Augenblicke, in denen er sich am meisten ängstigte: Wenn er fühlte, daß sich sein Brustkorb bei einem heftigen Hustenanfall verkrampfte, oder wenn er nicht wußte, woher er die Kraft für den nächsten Atemzug nehmen würde. Dies seien schreckliche Momente, sagte er, und seine ersten Gefühle seien Entsetzen, Furcht und Angst. Aber sobald er diese Emotionen wiedererkannte – der Schauder, der ihm den Rücken runterlief, der heiße Blitz, der sein Gehirn durchzuckte –, da war er fähig zu sagen: »Okay. Dies ist Furcht. Jetzt tritt ein paar Schritte zurück. Geh ein wenig auf Abstand.«
Ich dachte darüber nach, wie hilfreich ein solches Verhalten im Alltagsleben sein
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