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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Nachbarschaft. Mein Bruder und ich sitzen auf dem Schlitten, ich vorn, er hinten. Ich spüre sein Kinn auf meiner Schulter und seine Füße in meinen Kniekehlen.
    Der Schlitten rumpelt über vereiste Stellen. Wir werden immer schneller, während wir den Hügel hinabsausen.
    »AUTO!« schreit jemand. Wir sehen es kommen, unten auf der Straße. Wir schreien und versuchen, den Schlitten in eine andere Richtung zu lenken, aber die Kufen bewegen sich nicht. Der Fahrer schlägt auf die Hupe und tritt auf die Bremse, und wir tun, was alle Kinder tun: Wir springen ab. In unseren Parkas mit den Kapuzen rollen wir wie Baumstämme den kalten, nassen Schnee hinunter und denken, daß das nächste, was uns berührt, der harte Gummi eines Autoreifens sein wird. Wir schreien, und wir zittern vor Angst, während wir uns immer wieder drehen, die Welt steht auf dem Kopf, alles ist von unten nach oben gekehrt, wirbelt um uns herum.
    Und dann – nichts. Wir hören auf zu rollen, holen Atem und wischen den tropfenden Schnee von unseren Gesichtern. Der Fahrer
fährt weiter die Straße hinunter, droht mit dem Finger. Wir sind in Sicherheit. Unser Schlitten ist still und leise in eine Schneewehe gerutscht, und unsere Freunde kommen angelaufen, klopfen uns auf die Schultern und sagen: »Cool« und: »Ihr hättet dabei draufgehen können.«
    Ich grinse meinen Bruder an, und ein kindischer Stolz verbindet uns. So schlimm war es ja gar nicht, denken wir, und wir sind bereit, dem Tod erneut ins Gesicht zu schauen.



Der sechste Dienstag
Wir reden über Gefühle
    Ich ging an dem Berglorbeer und an dem japanischen Ahorn vorbei und dann die blauen Marmorstufen zu Morries Haus hinauf. Die weiße Regenrinne hing wie ein Augenlid über der Eingangstür. Ich schellte und wurde nicht von Connie begrüßt, sondern von Morries Frau, Charlotte, einer grauhaarigen schönen Frau, die mit angenehmer, rhythmischer Stimme sprach. Sie war nicht oft zu Hause, wenn ich vorbeikam  – Morries Wunsch entsprechend arbeitete sie weiterhin  –, und ich war überrascht, sie an diesem Morgen zu sehen.
    »Morrie hat heute ein bißchen Schwierigkeiten«, sagte sie. Sie starrte einen Moment lang über meine Schulter hinweg ins Weite und ging dann in Richtung Küche.
    »Das tut mir leid«, sagte ich.
    »Nein, nein, er freut sich bestimmt, dich zu sehen«, sagte sie rasch. »Ich bin sicher …«
    Sie unterbrach sich mitten im Satz, drehte ihren Kopf leicht zur Seite, horchte auf irgend etwas. Dann fuhr sie fort:
»Ich bin sicher … daß er sich besser fühlen wird, wenn er weiß, daß du hier bist.«
    Ich nahm die Tragetaschen vom Supermarkt hoch. »Mein üblicher Proviant«, sagte ich im Spaß, und sie lächelte besorgt.
    »Da ist ja schon soviel Essen. Er hat von dem, was du letztes Mal mitbrachtest, nichts angerührt.«
    Dies überraschte mich.
    »Er hat nichts davon gegessen?« fragte ich.
    Sie öffnete den Kühlschrank, und ich sah die Behälter mit Hühnersalat, Vermicelli, Gemüse, gefülltem Kürbis – alles Lebensmittel, die ich für Morrie mitgebracht hatte. Sie öffnete den Gefrierschrank, und da war sogar noch mehr.
    »Morrie kann die meisten dieser Sachen nicht essen. Sie sind zu hart für ihn, um sie zu schlucken. Er muß jetzt weiche und flüssige Dinge zu sich nehmen.«
    »Aber er hat nie etwas gesagt«, erwiderte ich.
    Charlotte lächelte. »Er möchte deine Gefühle nicht verletzen.«
    »Es hätte meine Gefühle nicht verletzt. Ich wollte ihm nur irgendwie helfen. Ich meine, ich wollte ihm nur etwas mitbringen …«
    »Du bringst ihm etwas mit. Er freut sich auf deine Besuche. Er redet davon, daß er dieses Projekt mit dir machen wird, daß er sich konzentrieren und sich die Zeit nehmen muß. Ich denke, das gibt ihm ein Gefühl von Zielstrebigkeit …«
    Wieder hatte sie jenen geistesabwesenden Blick, als sei sie in einer anderen Welt. Ich wußte, daß Morries Nächte immer schwieriger wurden, daß er nicht durchschlafen konnte, und das bedeutete, daß auch Charlotte häufig nicht durchschlief. Manchmal lag Morrie wach im Bett und hustete stundenlang  – so lange dauerte es, bis der Schleim sich löste. Die ganze Nacht waren jetzt Krankenpfleger bei ihm, und tagsüber kamen dann all die Besucher, frühere Studenten, Kollegen, Meditationslehrer, ein ständiges Kommen und Gehen. An einigen Tagen hatte Morrie ein halbes Dutzend Gäste, und sie waren häufig auch da, wenn Charlotte von der Arbeit zurückkam. Sie akzeptierte es geduldig, obwohl all

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