Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
kann. Wie wir uns manchmal einsam fühlen bis zu dem Punkt, wo wir weinen möchten, doch wir halten die Tränen zurück, weil das von uns erwartet wird. Oder wie wir plötzlich die Liebe zu unserem Partner ganz deutlich spüren, aber nichts sagen, weil wir gelähmt sind vor Angst, was diese Worte in der Beziehung bewirken könnten.
Morries Herangehensweise war das genaue Gegenteil. Dreh den Hahn auf. Laß es zu, daß das Gefühl dich überflutet. Es wird dir nicht weh tun. Es wird dir nur helfen. Wenn du die Furcht zuläßt, wenn du sie überstreifst wie ein vertrautes
Hemd, dann kannst du zu dir selbst sagen: »Okay, es ist bloß Furcht. Ich werde nicht zulassen, daß sie mich kontrolliert. Ich sehe sie als das an, was sie ist.«
Dasselbe gilt für die Einsamkeit: Du läßt los, läßt die Tränen fließen, fühlst sie voll und ganz – bist aber am Ende fähig zu sagen: »Gut, das war meine Begegnung mit der Einsamkeit. Ich fürchte mich nicht davor, mich einsam zu fühlen, aber jetzt werde ich die Einsamkeit beiseite schieben. Es gibt noch andere Gefühle auf der Welt, und ich werde diese Gefühle ebenfalls spüren.«
»Distanzier dich davon«, sagte Morrie noch einmal.
Er schloß die Augen und hustete.
Dann hustete er noch einmal.
Dann hustete er noch einmal, lauter.
Plötzlich war er fast am Ersticken. In seinen Lungen hing etwas fest. Es schien ihn zu foppen, sprang den halben Weg nach oben, fiel dann wieder herunter, raubte ihm den Atem. Er würgte, hustete dann stoßweise, schüttelte krampfhaft die Hände – mit geschlossenen Augen, wild gestikulierend, wirkte er fast besessen –, und ich fühlte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Instinktiv zog ich ihn halbwegs hoch und klopfte ihm auf den Rücken, und er hielt sich ein Papiertuch vor den Mund und spuckte einen Klumpen Schleim aus.
Das Husten hörte auf, und Morrie fiel in die Schaumkissen zurück und saugte gierig Luft in seine Lungen.
»Alles wieder okay?« fragte ich, bemüht, meine Angst zu verbergen.
»Alles wieder … okay«, flüsterte Morrie und hob einen zittrigen Finger. »Warte … eine Minute.«
Wir saßen still beieinander, bis sein Atmen wieder normal wurde. Ich fühlte den Schweiß auf meiner Kopfhaut. Er bat mich, das Fenster zu schließen; der leichte Windhauch machte ihn frösteln. Ich erwähnte nicht, daß es draußen siebenundzwanzig Grad im Schatten waren.
Schließlich sagte er flüsternd: »Ich weiß, wie ich sterben möchte.«
Ich wartete schweigend.
»Ich möchte heiter sterben. Friedlich. Nicht in der Art wie das, was eben passierte.
Und genau da kommt das Sich-Distanzieren ins Spiel. Wenn ich mitten in einem Hustenanfall, so wie ich ihn eben hatte, sterbe, dann muß ich fähig sein, mich von dem Entsetzen zu distanzieren, ich muß sagen können: ›Dies ist der Moment. ‹
Ich möchte die Welt nicht in einem Zustand von Furcht und Entsetzen verlassen. Ich möchte wissen, was geschieht, es akzeptieren, zu einer Insel des Friedens gelangen und loslassen. Verstehst du?«
Ich nickte.
»Laß noch nicht los«, fügte ich rasch hinzu.
Morrie zwang sich zu einem Lächeln. »Nein. Noch nicht. Wir haben noch Arbeit vor uns.«
»Glaubst du an Reinkarnation?« frage ich.
»Vielleicht.«
»Als was würdest du gerne wiederkommen?«
»Wenn ich die Wahl hätte: eine Gazelle.«
»Eine Gazelle?«
»Ja. So graziös. So flink.«
»Eine Gazelle?«
Morrie lächelt mich an. »Findest du das seltsam?«
Ich betrachte seinen eingeschrumpften Körper, die lose Kleidung, die in Socken eingehüllten Füße, die steif auf Schaumstoffkissen ruhen, unfähig, sich zu bewegen, wie ein Gefangener in Fußeisen. Ich stelle mir eine Gazelle vor, die durch die Wüste läuft.
»Nein«, sage ich, »ich glaube, das ist überhaupt nicht seltsam.«
Der Professor II
Der Morrie, den ich und den so viele andere kannten, wäre nicht der Mann gewesen, der er war, ohne die Jahre, in denen er in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, der Chestnut Lodge , die sich am Rande von Washington, D.C., befand . Dies war eine von Morries ersten Arbeitsstellen, nachdem er an der Universität von Chicago einen Magister und einen Doktor der Philosophie erworben hatte. Nachdem er sich gegen Medizin, Jura und Betriebswirtschaft entschieden hatte, war Morrie zu der Ansicht gekommen, daß die Forschung der Bereich sei, wo er etwas beitragen könnte, ohne andere auszubeuten.
Morrie bekam ein Stipendium dafür, daß er psychisch kranke
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