Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
ist?« fragte Morrie, der mein plötzliches Verstummen bemerkt hatte. »Was geht dir im Kopf herum?«
»Nichts«, sagte ich und wechselte das Thema.
Die Wahrheit ist, ich habe tatsächlich einen Bruder. Einen blonden Bruder mit haselnußbraunen Augen, der zwei Jahre jünger ist als ich und mir und meiner dunkelhaarigen Schwester so unähnlich ist, daß wir ihn häufig hänselten, Fremde hätten ihn als Baby auf unserer Schwelle zurückgelassen.
»Und eines Tages«, sagten wir dann zu ihm, »werden sie zurückkommen, um dich zu holen.« Er weinte, wenn wir das sagten, aber wir sagten es trotzdem.
Er wuchs so auf, wie viele jüngste Kinder aufwachsen: verwöhnt, innig geliebt und innerlich gepeinigt. Er träumte davon, ein Schauspieler oder Sänger zu sein; am Eßtisch spielte er Fernsehshows nach, spielte jede Rolle, wobei er von einem Ohr zum anderen lächelte. Ich war der gute Schüler, er war der schlechte; ich war gehorsam, er brach die Regeln; ich hielt mich von Drogen und Alkohol fern, er probierte alles aus, was man seinem Körper nur zumuten kann. Kurz nach dem High-School-Abschluß siedelte er nach Europa um, da er den lockeren europäischen Lebensstil vorzog. Dennoch blieb er der Liebling der Familie. Wenn er nach Hause kam, mit seiner verrückten und übermütigen Art, hatte ich häufig das Gefühl, schrecklich steif und konservativ zu sein.
Da wir so verschieden waren, vermutete ich, daß uns unsere Lebenswege in verschiedene Richtungen führen würden, sobald wir erwachsen waren. Ich hatte fast recht. Von dem Tag an, an dem mein Onkel starb, glaubte ich, daß ich einen ähnlichen Tod erleiden, früh an einer Krankheit sterben würde. Deshalb arbeitete ich wie ein Besessener und wappnete mich innerlich gegen den Krebs. Ich konnte seinen Atem fühlen. Ich wußte, daß er mich heimsuchen würde. Ich wartete darauf wie ein Verurteilter auf den Henker wartet.
Und ich hatte recht. Er kam.
Aber er verfehlte mich.
Er traf meinen Bruder.
Dieselbe Art Krebs wie mein Onkel. Die Bauchspeicheldrüse. Eine seltene Art. Und deshalb war es der Jüngste unserer Familie, der junge Mann mit dem blonden Haar und den haselnußbraunen Augen, der sich der Chemotherapie und der Strahlentherapie unterziehen mußte. Sein Haar fiel aus, sein Gesicht wurde so hager wie ein Skelett. Eigentlich sollte ich das sein, dachte ich. Aber mein Bruder war nicht ich, und es war auch nicht mein Onkel. Er war ein Kämpfer. Das war er schon als Kind gewesen, als wir im Keller miteinander rangen und er allen Ernstes durch das Leder meines Schuhs durchbiß, bis ich vor Schmerz aufschrie und ihn losließ.
Und so begann sein Kampf gegen die Krankheit. Er kämpfte gegen sie in Spanien, wo er lebte, mit Hilfe einer experimentellen Droge, die in den Vereinigten Staaten nicht erhältlich war – und es bis heute nicht ist. Er flog in verschiedene Städte Europas, um sich behandeln zu lassen. Nachdem er fünf Jahre lang in Behandlung gewesen war, schien es, als würde das Medikament die Krankheit zurückdrängen.
Das war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, daß mein Bruder mich nicht in seiner Nähe haben wollte – weder mich, noch sonst irgend jemanden aus der Familie. So sehr wir auch darauf drängten, mit ihm zu telefonieren und ihn zu besuchen, er hielt uns immer auf Abstand, bestand darauf, daß er diesen Kampf allein ausfechten mußte. Monate
vergingen, ohne daß wir auch nur ein einziges Wort von ihm hörten. Botschaften auf seinem Anrufbeantworter wurden nicht beantwortet. Ich war zerrissen von Schuldgefühlen wegen der Dinge, die ich für ihn tun wollte und sollte, und voll Zorn darüber, daß er uns das Recht verweigerte, es zu tun.
Also stürzte ich mich erneut in die Arbeit. Ich arbeitete, weil das etwas war, was ich kontrollieren konnte. Ich arbeitete, weil Arbeit vernünftig und verantwortungsbewußt war. Und jedesmal, wenn ich bei meinem Bruder in Spanien anrief und nur das Band des Anrufbeantworters hörte – die spanische Ansage meines Bruders war ein weiteres Zeichen dafür, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten –, legte ich auf und arbeitete noch ein wenig mehr. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich zu Morrie hingezogen fühlte. Er erlaubte mir eine Nähe, die mein Bruder mir nie gestattete.
Im nachhinein denke ich, daß Morrie dies vielleicht die ganze Zeit über wußte.
Irgendein Winter in meiner Kindheit, auf einem tief verschneiten Hügel in unserer vorstädtischen
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