Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
vielleicht unmöglich. Ich kann mittlerweile nicht mehr so lange reden, ich muß mich immer wieder ausruhen. Ich habe schon vielen Leuten abgesagt, die mich sehen wollten. Mitch, es sind so viele. Aber ich bin zu erschöpft. Wenn ich ihnen nicht meine volle Aufmerksamkeit widmen kann, dann kann ich ihnen nicht helfen.«
Ich sah zum Tonbandgerät und fühlte mich schuldig, als sei ich im Begriff, Morrie die letzten Stunden seiner kostbaren Sprechzeit zu rauben. »Sollen wir es ausfallen lassen?« fragte ich. »Macht es dich zu müde?«
Morrie schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Er schien darauf zu warten, daß irgendein verborgener Schmerz verebbte. »Nein«, sagte er schließlich. »Du und ich, wir müssen weitermachen. Dies ist unsere letzte gemeinsame Arbeit, weißt du.«
»Unsere letzte.«
»Und die müssen wir gut hinkriegen.«
Ich dachte an unsere erste gemeinsame wissenschaftliche Arbeit, im College. Es war natürlich Morries Idee gewesen. Er sagte mir, ich sei gut genug zu schreiben – etwas, was ich nie in Erwägung gezogen hatte.
Jetzt waren wir hier und machten dasselbe noch einmal. Wir begannen mit einer Idee. Ein sterbender Mann redet mit einem lebenden Mann, er sagt ihm, was er wissen sollte. Diesmal hatte ich keine solche Eile, die Sache zu Ende zu bringen.
»Jemand hat mir gestern eine interessante Frage gestellt«, sagte Morrie jetzt, wobei er über meine Schulter hinweg auf den Wandbehang hinter mir schaute, ein Quilt voller hoffnungsvoller Botschaften, die Freunde für seinen siebzigsten Geburtstag gestickt hatten. Auf jedem Flicken des Quilts stand eine andere: HALTET DURCH, DAS BESTE KOMMT NOCH; MORRIE – IMMER NR. 1 IN GEISTIGER GESUNDHEIT!
»Was war die Frage?« fragte ich.
»Ob ich mir darüber Sorgen machen würde, daß man mich, nachdem ich gestorben bin, vergessen könnte?«
»Und? Machst du dir welche?«
»Ich glaube nicht, daß ich vergessen werde. Ich habe so viele Leute, die einen sehr engen, persönlichen Kontakt mit mir hatten. Und Liebe ist der Weg, wie du lebendig bleibst, selbst nachdem du gegangen bist.«
»Klingt wie eine Zeile aus einem Lied: ›Liebe ist der Weg, wie du lebendig bleibst!‹«
Morrie kicherte. »Vielleicht. Aber, Mitch, was ist mit all diesen Gesprächen, die wir führen? Hörst du dir jemals meine Stimme an, wenn du wieder daheim bist? Wenn du allein bist? Vielleicht im Flugzeug? Vielleicht in deinem Auto?«
»Ja«, gab ich zu.
»Dann wirst du mich nicht vergessen, nachdem ich gegangen bin. Denk an meine Stimme, und ich werde bei dir sein.«
Denk an meine Stimme.
»Und wenn du ein bißchen weinen möchtest, dann ist das okay.«
Seit damals, als ich ein Student im ersten Semester gewesen war, hatte er mich zum Weinen bringen wollen. »Irgendwann werde ich dich noch soweit haben«, sagte er oft.
»Ja, ja«, erwiderte ich dann.
»Ich habe entschieden, was auf meinem Grabstein stehen soll«, sagte er.
»Ich möchte nichts über Grabsteine hören.«
»Warum? Machen sie dich nervös?«
Ich zuckte die Achseln.
»Wir können es vergessen.«
»Nein, sag’s nur. Was hast du entschieden?«
Morrie machte ein leise knallendes Geräusch mit den Lippen. »Ich dachte an: Ein Lehrer bis zum letzten Augenblick .«
Er wartete, während ich das in mich aufnahm.
»Ein Lehrer bis zum letzten Augenblick.«
»Gut?« sagte er.
»Ja«, sagte ich. »Sehr gut.«
Ich liebte die Art, wie Morries Gesicht aufleuchtete, wenn ich das Zimmer betrat. Er lächelte für viele Leute, aber es war sein besonderes Talent, jedem Besucher das Gefühl zu geben, daß das Lächeln einzigartig war.
»Ahhh, da kommt mein Freund«, pflegte er mit jener sanften hohen Stimme zu sagen, wenn er mich sah. Und die
Herzlichkeit hörte mit der Begrüßung nicht auf. Wenn Morrie bei dir war, war er wirklich bei dir. Er sah dir direkt in die Augen, und er hörte zu, als wärest du der einzige Mensch auf der Welt. Wieviel besser würde es den Leuten gehen, wenn ihre erste Begegnung jeden Tag auf diese Weise verliefe? Statt dessen müssen sie meist eine schlechtgelaunte Bemerkung von einer Kellnerin oder einem Busfahrer oder einem Chef über sich ergehen lassen.
»Ich glaube daran, völlig präsent zu sein«, sagte Morrie. »Das bedeutet, du solltest wirklich bei der Person sein, bei der du bist. Wenn ich jetzt mit dir rede, Mitch, dann versuche ich, mich ständig auf das zu konzentrieren, was zwischen uns geschieht. Ich denke nicht an das, was diesen Freitag kommt. Ich
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